Trickreiche Branche

Umweltverbände kritisieren bei Vorstellung des »Kritischen Agrarberichts« Aigners Landwirtschaftscharta

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 4 Min.
Seit 20 Jahren legt das »Agrarbündnis« aus Umwelt-, Tierschutz- und Landwirtschaftsorganisationen jährlich den »Kritischen Agrarbericht« vor. Nun soll auch eine große Demonstration im Umfeld der Grünen Woche zur Tradition werden.
Schöne Bilder auf der Grünen Woche: PR-Termin mit dem Bauernpräsidenten Gerd Sonnleitner (re.)
Schöne Bilder auf der Grünen Woche: PR-Termin mit dem Bauernpräsidenten Gerd Sonnleitner (re.)

Der »Kritische Agrarbericht« hat Tradition zur Grünen Woche. Eine erfolgreiche, wie sich BUND-Vorsitzender Hubert Weiger gestern selbst bestätigte: Nicht zuletzt der jährliche Bericht zu Agrarpraxis und Agrarpolitik habe dazu beigetragen, dass Begriffe wie »artgerechte Tierhaltung« in die Debatte eingegangen seien. »Die Gesellschaft«, glaubt Weiger, »will keine Agrarindustrie.« Das schlage sich auch auf der Messe nieder: Überall stoße man auf Vokabeln wie »Nachhaltigkeit« oder »Regionalität«, doch entsprächen die Überschriften meist nicht der Wirklichkeit. Deshalb will das »Agrarbündnis« in Zukunft neben dem Bericht auch die Großdemonstration im Umfeld der Grünen Woche, die im Vorjahr erstmalig stattfand, zur Tradition werden lassen.

Im Anschluss an die BUND-Untersuchung über den Antibiotikaeinsatz in der Hähnchenmast, die zuletzt von sich reden machte, präsentierte Heidrun Betz vom Tierschutzbund Zahlen aus anderen Bereichen: Demnach sollen 97 Prozent aller Puten und bis zu 96 Prozent aller Masthühner mit Antibiotika behandelt werden. Und: »Rund 88 Prozent aller Puten leben in Betrieben mit mehr als 10 000 Tieren, 72 Prozent der Masthühner werden in Betrieben mit 50 000 und mehr Tieren gehalten. Unter diesen Bedingungen ist es undenkbar, einzelne Tiere gegen Krankheiten zu behandeln.« Eine Mortalität von zwei bis drei Prozent werde inzwischen als normal angesehen, kritisierte Betz - in Niedersachsen werde derzeit über einen »Grenzwert« der Sterblichkeit in Großstallungen diskutiert, die bei vier oder sogar fünf Prozent liege. »Wer jetzt nicht umkehrt, nimmt in Kauf, dass Tiere weiter leiden und Menschen zu Schaden kommen«, sagte Betz - die dennoch unterstrich, dass sich große Betriebsdimensionen und artgerechte Tierhaltung nicht ausschlössen; man brauche dann nur deutlich mehr Beschäftigte. Deshalb sprechen sich Betz, Weiger und auch Friedrich Wilhelm Graefe zu Baringdorf von der Aktionsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) für eine Berücksichtigung sozialer Belange und von Beschäftigtenzahlen bei der Zuteilung von EU-Agrargeldern aus. Graefe zu Baringdorf räumte zudem ein, dass Tierschutz nicht immer widerspruchsfrei ist. So sei etwa die Ferkelkastration, die Tierschützer den Großbetrieben gerne vorwerfen, für kleine Betriebe oft unumgänglich. Der Eingriff müsse dann »tierschutzgerecht« erfolgen.

Am Vortag hatte Bauernverbandschef Gerd Sonnleitner gerade diese als einen abzustellenden Missstand genannt. So, erklärt BUND-Chef Weiger an einem anderen Beispiel, werde in der Branche trickreich Politik gemacht: Die EU-Hygienevorschriften beispielsweise, eigentlich eine gute Sache, seien in Deutschland dafür benutzt worden, kleinere Schlachtbetriebe auszubremsen. In Österreich dagegen seien sie EU-konform umgesetzt worden, ohne sich »strukturverändernd« auszuwirken.

Für Ministerin Ilse Aigners »Charta für Landwirtschaft und Verbraucher«, die parallel vorgestellt wurde, hatten die Umwelt- und Bioverbände nur wenig gute Worte. Es gebe zwar ein »Aufgreifen von Begriffen«, sie sei als konkrete Maßnahme aber hauptsächlich ein »Geschenk an den Bauernverband«: So stelle die Charta in Aussicht, dass ökologische Ausgleichsmaßnahmen künftig nicht mehr durch die Stilllegung von Nutzflächen geschaffen werden müssten. Eine Forderung, die besonders EU-Agrarkommissar Dacian Cioloş vertritt. Insgesamt zeige die Charta ein »absolutes Unverständnis ökologischer Strukturen«.

Zur anstehenden Reform der EU-Agrarpolitik sagte Graefe zu Baringdorf: »Der breiten Gesellschaft ist längst klar, dass die agrarpolitischen Rahmenbedingungen geändert werden müssen.« Aber damit Bundesregierung und auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments diese Vorschläge weiter verbessern, statt sie zu verwässern, müsse der öffentliche Druck steigen: »Nur das hilft, damit die Politik sich von den doch sehr eigensüchtigen Interessen der Industrie abnabelt.«

Damit ist auch Landwirtschaftsministerin Aigner gemeint. Die hat gestern Abend die Grüne Woche feierlich und offiziell eröffnet. Erwartet wurden rund 5000 Ehrengäste.


Aigners Charta

Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) hat gestern eine »Charta für Landwirtschaft und Verbraucher« vorgestellt, die nach Diskussionen mit der Branche, Umwelt- und Verbraucherverbänden sowie weiteren gesellschaftlichen Gruppen erarbeitet wurde. Konkret soll der Verbrauch wertvoller Agrarflächen reduziert und der Tierschutz verbessert werden. Bäuerliche Betriebe sollen besonders unterstützt und regionale Wirtschaftskreisläufe gestärkt werden. Aigner will zudem alle Agrar-Exporterstattungen abschaffen. nd

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