Antisemitismus fest verwurzelt
Forschungsgruppe kritisiert fehlende Strategien gegen Judenfeindlichkeit
Im November vergangenen Jahres schmierten Unbekannte mit schwarzer Farbe das Wort »Schande« auf das Denkmal der Alten Jüdischen Synagoge in Magdeburg. Die davor liegenden Kränze zur Erinnerung an die Reichspogromnacht wurden zerstört. Anschläge wie diese sind in Deutschland an der Tagesordnung. Allein in den ersten drei Quartalen des Jahres 2011 wurden nach Angaben der Bundesregierung 620 antisemitische Straftaten begangen, 15 davon waren Gewalttaten.
Gefahren gehen nicht nur von Rechtsextremisten aus. Der vor zwei Jahren von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkreis Antisemitismus kam in seinem gestern im Bundestag vorgestellten Bericht zu der Schlussfolgerung, dass latenter Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft verankert ist. Eingeladen hatte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), der davor warnte, sich mit dem Antisemitismus nur im Zuge spektakulärer Vorfälle zu beschäftigen. »Es bestehen tief verwurzelte Klischees und Unwissen über Juden und Judentum«, erklärte der Zeithistoriker Peter Longerich. Neue Ressentiments seien infolge des Holocaust und der Politik Israels zu erkennen.
Auch in der Israelkritik der »linksextremistischen Antiimperialisten«, die dem jüdischen Staat die Hauptschuld am Nahostkonflikt geben und ihm vorwerfen, einen »Vernichtungskrieg« zu führen, sehen die Autoren »inhaltliche Anknüpfungspunkte für den Antisemitismus«. Dass auch Konservative, wie etwa der frühere Sozialminister Norbert Blüm, bezüglich des Nahostkonflikts ein solches Vokabular benutzen, scheint dem Expertenkreis indes entgangen zu sein.
Die Forscher warnen zudem vor einem bisher zu wenig beleuchteten »islamistisch geprägten Antisemitismus« in Deutschland. Dieser müsse nun dringend untersucht werden.
Obwohl seit langem etwa 20 Prozent der Deutschen latent judenfeindlich eingestellt sind, hält sich die Politik mit langfristigen Maßnahmen zurück. »Eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus existiert nicht«, konstatierte die Historikerin Juliane Wetzel von der TU Berlin. Viele Projekte erhielten nur zeitlich befristet staatliche Förderungen. Zudem liefen sie uneinheitlich und unkoordiniert.
Der Bericht wird nun in den Gremien des Bundestages debattiert. Ob die Bundesregierung künftig verstärkt gegen Judenfeindlichkeit vorgehen wird, darf aber bezweifelt werden. CSU-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl mühte sich gestern, die Gefahren des Antisemitismus zu verharmlosen. »Wir müssen differenzieren. Nicht jede Schmiererei kann als inhaltsstarker Antisemitismus bewertet werden«, sagte Uhl. Zuweilen handele es sich um Provokationen durch pubertierende Jugendliche.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.