Aus der Wildnis des Lebens

Horacio Quiroga: Ein Klassiker wird neu entdeckt

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Wenn der Lebensweg des Horacio Quiroga ein Fluss gewesen ist, dann war es ein Strom mit Strudeln, Katarakten, schlammig, schäumend, nur selten hell und klar. Quiroga, geboren 1878 als Sohn eines argentinischen Konsuls in Uruguay, war dafür nicht gerüstet. Auf Bildern sieht man einen schlanken Mann mit Cutaway, Weste und Krawatte, mit Mittelscheitel und gestutztem Bart, die Hände in den Hosentaschen. Ein Dandy offenbar, vermutlich nicht lange.

Quirogas Biografie ist gesäumt von Katastrophen: Der Vater erschießt sich kurz nach Geburt des Jungen. Der Stiefvater - durch Hirnschlag gelähmt - erschießt sich, als Horacio knapp erwachsen ist. Mit dreiundzwanzig erschießt Quiroga einen Freund, aus Versehen. Zwei ältere Schwestern sterben an Typhus, die erste Frau wird sich vergiften, viel später begehen auch seine Kinder Selbstmord.

1900 reist Quiroga nach Paris, er sucht die Nähe der viel gerühmten Literaten vom Montmartre - laut Tagebuch eine »Niederlage«. Enttäuscht und abgerissen kehrt er zurück nach Montevideo. Drei Jahre später findet er den Ort seiner Bestimmung: die Landschaft der Jesuiten-Missionen, Provinz Misiones im Nordosten Argentiniens, subtropisch, mit Regenwald. Als Fotograf kommt er; als Siedler kehrt er wieder. Das Ungebändigte, Wild-Überschießende fasziniert ihn, die herbe Majestät des Río Paraná. Die Aussicht auf ein urtümlich schlichtes Leben. Er kauft Land, baut ein Haus mit Blick über den Strom. Ab 1909 lebt er hier mit seiner ersten Frau (die die Ödnis nicht erträgt, 1915 nimmt sie Gift), er ist Friedensrichter, Farmer, und irgendwann, immer wieder, findet er Muße für eine Art Selbsttherapie: Er schreibt. Kleine Geschichten.

Wie schreibt er, nach welchem Muster? Im »Dekalog des perfekten Erzählers« formuliert Quiroga: »Glaube an einen Meister - Poe, Maupassant, Kipling, Tschechow - wie an einen Gott. Glaube daran, daß ihre Kunst einen unerreichbaren Gipfel darstellt. Träume nicht davon, ihn zu bezwingen. Bist du dazu in der Lage, wird es dir gelingen, ohne daß du es merkst.« Quirogas Markenzeichen: Dramatik der Handlung bei lakonischem Vortrag. Figuren mit Tiefgang. Verknappung, Verdichtung. »Eine Erzählung ist ein von jedem Zierrat befreiter Roman.«

Seit 1897 publiziert Quiroga in Zeitschriften, 1904 folgt der erste Sammelband. Nach und nach erscheinen 170 Erzählungen, am Río de la Plata wird der Autor rasch populär. Der 21 Jahre jüngere Borges lästert später, sein Konkurrent sei nur ein schlechter Kipling, doch er steht allein mit diesem Verriss. Heute gilt Horacio Quiroga als Pionier moderner lateinamerikanischer Erzählkunst, als Wegbereiter für Cortázar & Co.

Das Werk des Klassikers wird auch an deutschsprachigen Universitäten seziert und gerühmt, doch dem großen Publikum blieb er - trotz vieler Editionen - unbekannt; erst ein Viertel aller Erzählungen ist übersetzt. Die wohl früheste deutsche Ausgabe erschien 1931, die für lange Zeit letzte 1995. Aber nun kamen zwei Sammelbände zugleich in die Läden. Ein Zufall, und kein ganz angenehmer. Neun Geschichten finden wir, die doppelt übertragen wurden, sie nehmen anderen Beiträgen den Platz. Man stelle sich den Frust der Übersetzer vor - Angelica Ammar bei S. Fischer (34 Texte plus »Dekalog«) und Roland Berens bei Aisthesis (17 Texte; vor Jahren präsentierte der Hispanist bereits eine Studie zu Quirogas »narrativer Ästhetik») - , als sie vom Parallelprojekt erfuhren. Wer mag, kann die deutschen Fassungen vergleichen; die von Frau Ammar sind knapper, strenger, eleganter, aber das ist Geschmackssache. Ein Anliegen eint die Akteure: Beide Ausgaben präsentieren »neue« Geschichten, beide machen das Werk ein Stück weiter zugänglich.

Die Bände zeigen trotz des Zwangs zur Selektion das ganze Spektrum an Themen und Topoi, die die Biografie des Autors dem Werk quasi aufgedrängt hat. Was waren seine Themen? Die Wildnis, natürlich. Die Tiere, Papageien, Schlangen, Kaimane; Tiere, die der Erzähler bedroht sah durch die aggressive Spezies Mensch. Quiroga gab seinen Kollektionen sprechende Titel: »Der Wilde« (1920), »Anaconda« (1921), »Die Ödnis« (1924). Er zeigt die Natur unbarmherzig, er zeigt auch ihren Liebreiz, in einer Erzählung benennt er seinen Traumort, »an einem großen Fluß, in einem von Menschen unbewohnten Land«.

»Die Verbannten« (1926) waren Quirogas Thema, zähe Typen, die das Leben in den Busch gespült hatte, er gehörte dazu. (Die Texte dieser Sammlung flossen in beide Neuausgaben.) Auch eine neue Kunst war sein Thema, die Cinematographie. Und ein Prosaband heißt »Geschichten von Liebe, Irrsinn und Tod«, noch ein sprechender Titel.

1917, zwei Jahre nach dem Gifttod der Frau, zieht Quiroga mit den Kindern vom Mittellauf des Río Paraná an die Mündung, nach Buenos Aires. Zehn Jahre später heiratet er dort eine Freundin der Tochter. 1931 kehrt der Schriftsteller mit Familie heim in den Wald von Misiones, doch die Frau verlässt ihn. 1935 erscheint das letzte Buch zu Lebzeiten, »Jenseits«. Quiroga erkrankt, lässt sich in der Hauptstadt operieren, er denkt jetzt viel an den Tod. Als Erzähler hat er das Sterben vorweggenommen, das jähe Sterben, ein Sterben ohne tröstenden Gott, denn Quiroga ist Materialist.

Einen besonders anrührenden Text über den Tod kann man in beiden Editionen wiederlesen - »A la deriva« («Abgetrieben« oder »In der Strömung«), eine Miniatur, nur vier Seiten lang. So beginnt es: »Der Mann trat auf etwas Weiches, und fast im selben Moment spürte er den Biß im Fuß.« Eine Giftschlange. Der Siedler im Urwald, macht sich nichts vor. Weil er nicht sterben will, setzt er sich in sein Kanu und paddelt los, stromab auf dem Paraná. Er sucht Hilfe, der nächste Ort liegt fünf Stunden entfernt. Der Mann, bald paralysiert, lässt sich durch schlammige Strudel treiben, man denkt an Lethe, doch plötzlich geht es ihm besser: »Kein Zweifel, das Gift entwich langsam.« Der Mann wird schläfrig, er halluziniert. »Der Buschwald warf seine abendliche Kühle mit dem durchdringenden Duft nach Orangenblüten und wildem Honig über den Fluß.«

An einem Februarabend 1937 erfährt Horacio Quiroga in einem Hospital von Buenos Aires seine Diagnose: Prostatakrebs. Stunden später stirbt der Dichter. Er schluckt Gift, Zyankali. Die Geschichte vom Mann auf dem Fluss endet mit einem schockierend schlichten Satz: »Und er hörte aufzu atmen.«

Horacio Quiroga: Die Wildnis des Lebens. Gesammelte Erzählungen. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. S. Fischer Verlag. 429 S., geb., 24,95 €.

Horacio Quiroga: Die Verbannten und andere Erzählungen. Aus dem Spanischen von Roland Berens. 240 S., brosch., 16,80 €.

Roland Berens: Narrative Ästhetik bei Horacio Quiroga. 2002. 231 S., brosch., 45 €. Beide Bücher Aisthesis Verlag, Bielefeld.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -