Fliegen, wo andere Skifahren
Mit dem Zug ins Tiroler Zillertal, mit dem Gleitschirm in die Lüfte
Der Zug rauscht durch die Nacht. Ich sitze auf dem Bett meiner kleinen Schlafkabine, ein Buch in der Hand, und wäre nicht das Spiel der Schwerkraft am Körper zu spüren, würde ich vergessen, dass ich in der Bahn bin, auf dem Weg nach Österreich, ins Tiroler Zillertal. Dort, wo andere Skifahren, will ich mich in die Lüfte stürzen. Ach was, Gleiten will ich, schwerelos - und es hoffentlich genießen. Mitten im Winter.
Die Welt ist ein wenig schüchtern, als der Zug in Zell am Ziller ankommt. Sie hat sich ganz klein gemacht. Die Berge tragen den Himmel huckepack, Nebelschwaden hängen an den Kirchendächern, der Tag ist blass, wie mit blauer Tusche übermalt. Es ist ein geschickter Empfang, als hätte die Tiroler Winterwelt ihn geplant, um ihre Touristen um den Finger zu wickeln. Denn so werde ich um so dankbarer sein, als sie sich am zweiten Tag großzügig weitet und mich am Gleitschirm in die Lüfte lässt.
Es wird der Höhepunkt dieses Kurzurlaubs, und das, obwohl das Zillertal fast 700 Kilometer tadellose Pisten zum Skifahren bereithält, schwarze, rote, blaue. 172 Seilbahnen tragen die Wintersportler in die Höhe, sie sehen aus wie Ameisenstraßen an den Hängen.
Der Zug hält fast direkt zu Füßen der Seilbahn. Vom Bahnhof ist es nur ein kurzes Stück, das sich schnell mit einem der Busse zurücklegen lässt. Luxus also. Kein ermüdendes Warten am Flughafen, kein Stau auf der Autobahn. Abends bin ich in Berlin losgefahren, mittags stehe ich in einem Geschäft bei der Seilbahn, leihe mir Snowboard, Helm und Schuhe - und ruckele in einer Gondel den Berg hinauf. Mit dem Fliegen wird es heute ohnehin nichts, die »Thermik« stimmt nicht. Kein Aufwind, keine Sicht, kein Flug.
Aber ich kann mich mit meinem Snowboard einreihen in das Spiel der Skitouristen: Mit der Gondel hochfahren, auf Brettern hinuntersausen, hinauf, hinunter. So befreit der Winter die Menschen von ihrem zweckgebundenen Tun, packt sie in bunte Sportkleidung und lässt sie die Berge bevölkern wie eine große Bühne, auf der sie rhythmisch ihre Bahnen ziehen. Hinauf, hinunter. Doch weil jedes Spiel irgendwann an Reiz verliert, und untrainierte Muskeln an Kraft, braucht es Pausen, in denen man sich anderen Dingen widmet.
Die Tourismusindustrie im Zillertal hat längst erkannt, dass »Schneegarantie« und Skifahren im Wettbewerb um Winterurlauber nicht genügen, und verspricht auch »Spaß abseits der Piste«. Am Hintertuxer Gletscher kann man eine Eishöhle besuchen, die mit bunten Lichtern in Szene gesetzt ist; im Skigebiet Zillertal Arena in einer Art Hochseilgarten mit einer Rolle ans Seil gehängt mit bis zu 50 km/h über die Pisten fliegen.
Verkauft werden besondere Erlebnisse, von denen man zu Hause berichten kann. Da sagt man nicht: Ich war Skifahren, sondern: Ich habe bei minus 10 Grad einen Tandemflug in 2000 Meter Höhe gemacht. »Das könnte ich nie!«, lautet so manche Reaktion. Dabei ist gar nichts Beängstigendes daran.
Als ich mit den Gleitschirmpiloten in der Gondel sitze, auf dem Weg zum Startpunkt unseres Fluges, weiß ich das natürlich noch nicht. Drei Fluggäste sind wir und ebenso viele Piloten. Ich schaue durch die milchigen Scheiben ins Tal, das sich von uns entfernt. »Gibt es viele Leute, die sich oben doch nicht trauen?« »Nur ein oder zwei, in letzter Zeit«, sagt David Jürgen, dem das Flugunternehmen Stocky Air gehört. »Eigentlich ist es ganz leicht. Wir hatten auch schon Achtzigjährige, die mit uns geflogen sind.« Der älteste Interessierte war 92 Jahre alt. Bei ihm musste der Flug abgesagt werden - nicht wegen des Alters, sondern weil das Wetter zu schlecht war. 92! ... »Man muss nur gut zu Fuß sein, um am Anfang ein Stück zu laufen.«
Meine Bedenken sind fast verschwunden, als wir auf dem Berg stehen und den Hang hinunterschauen, der unsere Startbahn sein wird. Kein Abgrund tut sich vor mir auf, ich muss keinen Schritt ins Leere wagen. Flach und gütig sieht das Gelände aus. Die Piloten breiten die Gleitschirme im Schnee aus, dann werden die Gäste eingespannt wie Pferde vor eine Kutsche.
Zuvor muss ich das anziehen, was sich später als Hängesitz herausstellt. Hier am Boden erinnert es an eine Hose, erst mit dem rechten Fuß hinein, dann mit dem linken, hochziehen und mit den Armen durch die »Hosenträger«. Schon hängt das Ganze wie ein schwerer Sack am Körper. Klaus, der Mann, von dem in der nächsten halben Stunde mein Leben abhängt, verbindet mich mit zwei Handgriffen mit dem Schirm. Klick, klick. »Das war's schon?«, frage ich und meine damit: Das ist viel zu einfach, um sicher zu sein!
Dann muss ich rennen, Klaus direkt hinter mir, und als ich gerade denke, dass das ganz schön schwer ist, so durch den tiefen Schnee, spüre ich, wie wir abheben. Fast unmerklich der Übergang, und plötzlich fühlt es sich an, als gebe es nichts Natürlicheres als das Fliegen. Unter uns die Wolkendecke, in den Zwischenräumen das Tal. Mit baumelnden Beinen sitze ich in der Luft, fast ist es zu bequem für ein Abenteuer. Doch der eisige Wind erinnert daran, dass hier ungeheure Kräfte bezwungen werden - natürlich nicht von mir, sondern von Klaus, der schon mit fünf zum ersten Mal am Gleitschirm hing.
Jetzt ist er 24 und geht an sein klingelndes Handy. »Ich fliege gerade«, sagt er mitten im Gespräch, als würde er berichten, an der Supermarktkasse zu stehen. So ist die moderne Welt: Kaum wähnt man sich einen Augenblick über sie erhaben, da meldet sie sich schnippisch zurück. Gut, dass nicht Sommer ist - in der Hochsaison kann es passieren, dass Klaus den ganzen Flug über telefoniert, weil ständig Leute buchen wollen. Die Kälte bringt also durchaus Vorteile mit sich. Das zeigen auch die Igludörfer, die unter uns auf den Bergen versteckt liegen und die ich zuvor mit dem Snowboard besucht habe. Der Frost hat sich dort als Baumeister und Muse erwiesen. Auf dem Ahorn bei Mayrhofen, das jetzt irgendwo hinter dem Wolkenmeer uns zu Füßen liegt, kann man während eines langen Tags auf der Piste in ein ganz besonderes Gasthaus einkehren.
Die »White Lounge« ist eine Bar aus Eis. Drei Meter dick die Wände aus Schnee, in die kunstvolle Figuren geschnitzt sind. Man betritt den Iglu wie eine Höhle durch einen langen Gang. Drinnen sitzen Skifahrer in Nischen auf bequemen Schafsfellen, übergossen mit blauem oder pinkem Licht. Es ist angenehm warm, obwohl die Temperatur hier durchgehend bei -1 Grad liegt. Kälte ist relativ, wenn ein schöner Anblick die Gedanken ablenkt. Aus Lautsprechern dringt sphärische Musik, in Pappbechern dampft Glühwein. Bei schönem Winterwetter werden draußen sogar Liegestühle aufgestellt - mit Panoramablick ins Tal und heißen Cocktails. Das besondere Erlebnis muss eben auch auf der Piste verkauft werden, die Konkurrenz zwischen den Skigebieten und Hütten ist groß. Rund um die »White Lounge« sind Iglus gebaut, die man als Hotelzimmer buchen kann. Nachahmer gibt es schon im benachbarten Gebiet Hochzillertal: Vor dem hölzernen Gasthaus »Kristallhütte«, in dem Horst Köhler, als er noch Bundespräsident war, regelmäßig Urlaube verbrachte, reihen sich die Schneehütten wie Lauben in einem Vorgarten. Und wenn die Sonne herauskommt, reicht der Blick von der Iglutür bis ins Tal.
Doch selbst der sonnigste Panoramablick kommt nicht an das heran, was mein schaukelnder Gleitschirmsitz an diesem nebligen Tag an Weite offenbart. In großräumigen Kreisen bewegen wir uns auf die Landebahn zu - ein verschneites Feld mitten im Ort. »Was muss ich jetzt tun?«, frage ich, als der Boden auf uns zudrängt und Klaus immer noch still ist. »Einfach die Beine ausstrecken und zwei Schritte laufen.« Auch hier hält der Winter einen Vorteil bereit: Die dicke Schicht federt die Landung ab, obwohl es trotzdem zwickt in den Knien. Ein kurzes Autsch - und die Erde hat mich zurück.
- Infos: Zillertal Tourismus GmbH, Bundesstr. 27d, A-6262 Schlitters, Tel.: +43 5288 87187, www.zillertal.at
- Tandemflug: Stocky Air, www.stockyair.com, Tel.: +43 664 3407976, ab 85 EUR
- Anreise: Deutsche Bahn, Euro Spezial ab 39 ¤ oder City Night Line ab 59 ¤ (Liegewagen) und 79 ¤ (Schlafwagen)
- Iglus: White Lounge, Tel: +43 5285 62277, www.white-lounge.at und Kristallhütte, Tel.: +43 676 88 632 400, www.kristallhuette.at
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