Der geraubte Lebensabend
Ein späterer Renteneinstieg löst keine Probleme, schafft aber viele neue
Die Rente erst mit Vollendung des 67. Lebensjahres auszuzahlen, erscheint aus einem bestimmten Blickwinkel plausibel: Erwerbstätige zahlen Versicherungsbeiträge in die Rentenkasse ein. Man spricht bei diesem Finanzierungsmodell auch vom Generationenvertrag. Die Jungen sorgen für die Alten. Das System ist nur so lange funktionsfähig, wie das Einzahlungsvolumen den Auszahlungsbedarf deckt. Eine steigende Zahl von Rentnern kann nur versorgt werden, wenn entweder mehr Versicherte einzahlen oder/und deren Einkommen beziehungsweise die Beitragssätze steigen.
Oft wird behauptet, dass die Zahl der Nichterwerbstätigen zunehme. Demnach führten Geburtenrückgang und steigende Lebenserwartung dazu, dass sich die Zahl der Alten im Vergleich zu der der Personen im Arbeitsalter erhöhe. Zugleich müsse man damit rechnen, dass die Arbeitslosenquote weiter steige. Ein anhaltender Produktivitätsfortschritt, verbunden mit zunehmender Marktsättigung, führe dazu, dass die Produktionsmenge mit immer weniger Arbeitskräften hergestellt werden kann. Daraus folge, dass aus der schmaler werdenden Lohnbasis ein wachsendes Renten- beziehungsweise Sozialeinkommen aufgebracht werden müsse. Eine stärkere Beteiligung der Unternehmer komme nicht in Frage, weil dadurch Lohnnebenkosten stiegen, die Produktion unrentabel und nicht mehr wettbewerbsfähig werde. Deshalb raten neoliberale Ökonomen zu privater Vorsorge. Sie schlagen vor, die Lebensarbeitszeit zu verlängern und so die Rentenbezugsdauer zu kürzen.
Zwar wächst seit Jahren der Anteil der Alten an der Bevölkerung. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die noch nicht arbeiten, sinkt. Die Gesellschaft muss für beide Gruppen aufkommen. Die daraus resultierenden Belastungen sind aber geringer als behauptet wird. Zwar ist es kein Grund zum Jubeln, wenn Geburtenzahlen weiter sinken, gleichwohl aber ein Umstand, der die Unterhaltspflicht der Gesellschaft für ihre jüngsten Mitglieder in Grenzen hält.
Arbeitsplätze für Ältere fehlen
Auch von den Befürwortern einer längeren Lebensarbeitszeit weiß niemand, wo die Arbeitsplätze herkommen sollen, die mit über 65-Jährigen besetzt werden könnten. Heute arbeitet nur jeder zwanzigste sozialversicherungspflichtig Beschäftigte bis 65. Für viele körperlich anstrengende Tätigkeiten kann das ohnehin ausgeschlossen werden. Krankheiten nehmen im Alter zu. Die Zahl der Jahre, die ein 65-Jähriger oder eine 65-Jährige erwartungsgemäß in guter gesundheitlicher Verfassung leben werden, ist seit Mitte der 1990er leicht rückläufig und beträgt sieben bis acht Jahre. Wer die Rente mit 67 will, beabsichtigt, dass die Suche nach einem Arbeitsplatz nahtlos in jene nach einem Platz im Alten- und Pflegeheim übergeht. Menschen wird der verdiente Lebensabend geraubt, denen, die nicht bis 67 arbeiten können, die Rente stark gekürzt. Das verschärft Altersarmut.
Von privater Altersvorsorge profitieren in erster Linie Versicherungsunternehmen. Eine Rentengarantie bieten sie nicht. Viele Arbeiter, Arbeitslose und Niedriglohnempfänger sind außerdem gar nicht in der Lage, nennenswerte Beiträge zusätzlich einzuzahlen.
Eine soziale und solidarische Lösung ist innerhalb des bisherigen Rentenmodells durchaus vorstellbar. Linke Theoretiker, Sozialverbände und Gewerkschaften halten das Umlageverfahren für zukunftsfähig. Allerdings müssten, um das Beitragsaufkommen der Rentenkassen zu erhöhen,
● die Beschäftigungssituation nachhaltig verbessert,
● Maßnahmen zur Erhöhung der Geburtenzahl getroffen,
● die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefördert,
● Mindestlöhne eingeführt,
● die Beitragsbemessungsgrenze an- oder aufgehoben,
● Niedriglöhne abgeschafft,
● der Trend zu Teilbeschäftigung, sozialversicherungsfreien und Minijobs gestoppt,
● die Zuwanderung von Arbeitskräften erleichtert,
● weitere vermögende Bevölkerungsgruppen in die Pflichtversicherung,
● bei freiwilliger Zusatzversicherung alle Einkommensbestandteile in die Gesetzliche Rentenversicherung einbezogen,
● die Einstellungsbereitschaft der Firmen gestärkt, Arbeitsbedingungen verbessert, Weiterbildungsmöglichkeiten und Kompetenz gefördert werden.
So könnte eine solidarische Rente auch unter komplizierteren demografischen Bedingungen garantiert werden. Zudem kann niemand die demografische Entwicklung voraussagen. Familienfreundlichere Politik und Betriebe, mehr Kindergartenplätze und Gesundheitsvorsorge könnten die Lage entspannen. So sehr aber jeder kleinste Fortschritt begrüßenswert ist, bleibt doch Skepsis, ob auf diese Weise die sozialverträgliche Lösung der »Rentenfrage« gelingen kann. Letztlich gehen alle Vorschläge davon aus, dass Potenzial für Wachstum vorhanden sei. In »reifen«, gesättigten und alternden Gesellschaften aber wächst die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern nicht in dem Maße, das erforderlich ist, um in nennenswertem Umfang neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Deshalb sind Überlegungen notwendig, aus dem Finanzierungssystem auszubrechen. Es ist leicht einzusehen, dass ein System mit sinkenden Einzahlungen und steigenden Auszahlungen nicht funktionieren kann. Staatskünstlern und neoliberalen Wirtschaftsexperten fällt zu diesem Dilemma nichts ein, als Pensionen zu kürzen und Auszahlungen um Jahre zu verschieben. Ist es aber so schwer einzusehen, dass es eines anderen Systems bedarf, wenn mit dem bisherigen die Probleme nicht gelöst werden können?
Ein neues System ist nötig
Kaum ein maßgeblicher Wissenschaftler oder Politiker scheint zu merken oder ist bereit zuzugeben, dass die neoliberale Reaktion aus einer verengten Sicht auf das Problem resultiert. Bei ganzheitlicher, komplexer Analyse erkennt man, dass die sozialen Sicherungssysteme nur vordergründig Interessengegensätze zwischen Jungen und Alten, Kranken und Gesunden, Beschäftigten und Arbeitslosen ausgleichen müssen. Entscheidend ist der Konflikt zwischen Arm und Reich.
Wie die Gemeinschaft vom Produktivitätszuwachs profitiert, kann unterschiedlich sein: entweder mehr Freizeit für alle oder nur für einige, zeitweilige oder dauerhafte Ausgliederung von Beschäftigten aus dem Erwerbsprozess, gleiche oder ungleiche Verteilung der Produktionsergebnisse. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt: Der Produktivitätsanstieg und die Erhöhung des Volkseinkommens verbessern die Möglichkeiten, erwerbslose Menschen am Wohlstand einer Nation zu beteiligen. Paradox: Das Verteilungsproblem scheint um so schwieriger lösbar zu sein, je mehr zu verteilen ist.
Allerdings - und das ist die Krux - verbessern sich für einige die Zugriffsmöglichkeiten auf das Gesamtprodukt, während sie sich für andere verschlechtern. Aus der Sicht des volkswirtschaftlichen Gesamtergebnisses ist die Aufgabe der Gemeinschaft, Sozialeinkommen langfristig zu sichern ohne zugleich die Belastungen von Teilen der Gesellschaft unangemessen zu erhöhen, weit weniger beunruhigend. Ob Umlage oder Kapitaldeckungsverfahren: Aller Sozialaufwand kann immer nur aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden. Dessen Höhe je Erwerbstätigem hat sich im früheren Bundesgebiet von 1970 bis 1990 verdreifacht, von 1991 bis 2010 ist es um 52 Prozent gestiegen.
Die Gretchenfrage ist, wer vom Produktivitätsanstieg und Wachstum des Volkseinkommens partizipieren soll, und vor allem, wie. Die Zahlen zeigen: Eine Gesellschaft, die durch technischen Fortschritt reicher wird, kann jene angemessen am Wohlstandszuwachs beteiligen, die für die Gütererzeugung nicht mehr benötigt werden, die unverschuldet nicht an der Entstehung des Gesamtprodukts teilhaben können oder die aus Altersgründen aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Wenn sich aber Einkommens-, Vermögens- und Wohlstandsgefälle weiter verschärfen, zeigt das, dass technischer Fortschritt und Produktivitätswachstum nicht sozial bewältigt werden.
Die Beibehaltung des umlagefinanzierten Rentensystems sollte deshalb durch eine steuergestützte Finanzierung ergänzt werden. Dabei müssten die Renten nicht mehr an die Entwicklung der Löhne, sondern an die der Preise und der Produktivität gekoppelt werden. Zuschüsse aus dem Staatshaushalt gleichen die Differenz zwischen dem Beitragsaufkommen und dem Auszahlungsbedarf aus. Diese Kombination ist sinnvoll, wenn sie mit größerer Steuergerechtigkeit verknüpft wird. Der Fiskus darf den Arbeitenden in Form höherer Abgaben nicht nehmen, was die Rentenkasse den Jüngeren durch den Verzicht auf steigende Versicherungsbeiträge belässt. Ruheständlern aus dem Staatssäckel zu helfen, ist nur recht und billig - sie haben ein Leben lang in jenes eingezahlt.
Haushaltsnöte können da keine Ausrede sein. Wie lange soll der Bevölkerung noch zugemutet werden, dass ihre Steuern verschwendet, für steigende Zinsen aufgebracht, für Kriegseinsätze verpulvert, für die Rettung spekulierender Banken eingesetzt und zum Subventionieren reicher Unternehmen benutzt werden? Auch zusätzliche Einnahmequellen gibt es: Man kann den Spitzensteuersatz und Körperschaftsteuersatz anheben, hohe Vermögen und Finanztransaktionen besteuern, Steuerflucht unterbinden, Erbschaft- und Schenkungssteuer reformieren, die kommunale Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftssteuer ausbauen.
Ein Mehr an Steuergerechtigkeit
Mit einem neuen Finanzierungssystem kann die Gesellschaft das nominale Rentenniveau nicht nur garantieren, sondern auch die Alten am wachsenden Reichtum angemessen beteiligen. Und auch das Rentenalter muss nicht erhöht werden. Es kommt nicht darauf an, wie die Relation zwischen Erwerbstätigen zu Nichterwerbstätigen ist, sondern wie sich das Verhältnis des verteilbaren Reichtums einer Gesellschaft zur Anzahl ihrer Mitglieder ändert. Und diese Zahl steigt! Deshalb könnte der Sozialstaat ein Rentensystem schaffen, das es den Alten nach einem arbeitsreichen Leben ermöglicht, ab 60 ein Dasein ohne Leistungs- und Existenzdruck zu führen. Der Mensch hat das Recht, ab dem 60., spätestens ab dem 65. Lebensjahr gesund und im Einklang mit Seele und Natur seinen Lebensabend zu genießen. Neoliberale Forderungen, die das Gegenteil wollen, sind wirtschaftlich unbegründet und inhuman. Wer länger arbeiten möchte, weil er darin Erfüllung findet, sollte dies dürfen und durch die Gesellschaft dabei unterstützt werden, nicht aber durch Gesetz oder Armut dazu gezwungen sein.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.