Ministers Seitenwechsel
Sachsen-Anhalts Sozialressortchef war für eine Urlaubswoche Praktikant bei Demenzkranken
Der Mann im grauen Kapuzenshirt greift zur Gitarre. Frieda Nehry hat Geburtstag. Er bringt ihr ein Ständchen zum 79. Der Gitarrist könnte ein Bufdi sein, wie man nun die Nachfolger der Zivis nennt. Der Praktikant, der nun Gitarre spielt, heißt aber Norbert Bischoff und ist eigentlich der Sachsen-Anhalts Arbeits- und Sozialminister. Das jedoch ist unwichtig für die Frauen und Männer, die die Tagespflege im Seniorenzentrum Nord des Halberstädter Cecilienstifts besuchen: Für den Augenblick ist Bischoff ihr »Gitarrenmann«.
Den »Minister« ließ der SPD-Politiker, so gut es ging, in der Landeshauptstadt. Er war schon einmal offiziell vor Ort; einer der zahllosen Politikerbesuche, die nach dem Abrauschen der Dienstwagen auf beiden Seiten schnell vergessen sind. Doch der SPD-Politiker hatte etwas versprochen: Hier bei den Demenzkranken mal mitzuarbeiten, privat, ehrenamtlich, im Urlaub.
Nun löste Bischoff sein Versprechen ein. Reihte sich ein in die Schaar der Praktikanten, 2011 waren es immerhin 77, davon 28 in der Behinderten- und 19 in der Altenhilfe. Die Mitarbeiter des Diakonissenmutterhauses Cecilienstift behandelten Bischoff dann auch wie einen Praktikanten, ganz ohne Minister-Bonus. »Hier zählt nicht, wer ich bin, sondern das, was ich mache«, sagt Bischoff. Er half in der Tagespflege bei der Betreuung von Menschen mit Demenz. In der stationären Pflege erlebte er das Wecken, Waschen, Windeln, Anziehen und »das Essen als Haltepunkt des Tages«.
Zu wenig Wertschätzung
Bischoff hat keine Pflegeerfahrung außerhalb der Familie und steht zu seiner Unsicherheit. »Es ist das Spannungsfeld von Nähe und Distanz. Da gibt es kaum eine Rückmeldung, das innere Leben dieser Menschen spielt sich anders ab, als wir es kennen. Die Mitarbeiter hier tun alles, um ihnen ein Stück Lebensqualität zu bewahren. Davor habe ich nun eine noch größere Hochachtung.« Der Minister-Praktikant hat gelernt, mit den zu Betreuenden auf Augenhöhe zu reden, auf sie einzugehen. Drei Frauen werden immer gefüttert. Bischoff hält sich zurück und überlässt es den damit vertrauten Schwestern. »Füttern ist für mich eine sehr private Sache.«
Bischoff hat Respekt vor den Pflegekräften, die schon an die 30 Jahre im Altenzentrum Nord arbeiten, aber doch nicht in Routine verfallen. Pflegekraft, das gilt noch zu oft als »Randberuf«. Die Wertschätzung dafür sei nicht oder meist zu wenig gegeben, sagt Bischoff. Er hat miterlebt, wovon Christine Becker, die Bereichsleiterin Altenhilfe, erzählt. Angehörige bringen morgens die Dementen in die Tagesbetreuung, gehen zur Arbeit und holen sie nachmittags wieder ab. »Das ist Pflege-Dauereinsatz. Man verliert Freunde, kommt kaum noch aus dem Haus, die Familie nimmt Schaden.«
Pflegedienstleiterin Gabi Leitel stellt Norbert Bischoff ein gutes Zeugnis aus. »Er stieg voll ein und brachte die abgeforderte Leistung als Praktikant.«
So ein Seitenwechsel schafft Kompetenz, sagt Bischoff: »Es ist etwas anderes, als wenn man nur davon liest oder als Minister mal kurz reinschaut und etwas vorgeführt bekommt.« Todtraurig war es manchmal, dann wieder lustig. Er habe sich als einer von vielen gefühlt, die mitarbeiten, damit es Bewohnern und Tagesgästen so gut als möglich geht. »Hier ist man mit Haut und Haaren bei einer Sache. Als Minister bekommt man den Ablauf diktiert, neue Runden, Grußworte, Kurzbesuche, das ist eine abstrakte Ebene.«
Viel Papierkram
Wenn es ums Pflegereformgesetz geht, kann der Minister Bischoff nun auf seine eigenen Erfahrungen zurückgreifen. Schließlich hat er die Bürokratie miterlebt und rät jenen, die ellenlange Aufzeichnungsbögen erfinden, mal im Cecilienstift praktisch zu arbeiten. »Professionelle Pflege und Betreuung müssen sich mit intensiver menschlicher Zuwendung paaren. Aber Menschliches wird in den ganzen Bögen nicht abgefragt.«
Der Praktikant Bischoff hat seinen Arbeitsurlaub im Stift beendet. Am Montag fragen einige Bewohner etwas enttäuscht: »Kommt denn der Gitarrenmann heute nicht zu uns?«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.