Der Implex

Von Barbara Kirchner und Dietmar Dath

  • Lesedauer: 7 Min.
Dietmar Dath, 41, ist Schriftsteller, Journalist, Übersetzer - und einer der konsequentesten linken Denker der Gegenwart. Eines seiner jüngsten Bücher: ein Interviewband mit nd-Redakteur Martin Hatzius - »Alles fragen, nichts fürchten«. Verlag Das Neue Berlin.
Dietmar Dath, 41, ist Schriftsteller, Journalist, Übersetzer - und einer der konsequentesten linken Denker der Gegenwart. Eines seiner jüngsten Bücher: ein Interviewband mit nd-Redakteur Martin Hatzius - »Alles fragen, nichts fürchten«. Verlag Das Neue Berlin.

Wenn Brecht seine Heilige Johanna der Schlachthöfe sagen lässt, es helfe nur Gewalt, wo Gewalt herrscht, dann ist das eine schnittige Parole.

Schaut man sich die einmal (was bei Kampfparolen bekanntlich gar nicht so einfach ist) in Ruhe an, so fällt zunächst auf, dass sie Zwecke und Mittel, Zustand und Handlung, Absicht und Praxis, Aufstand und Gewohnheit verwechselt, also »schief ist«: ein plausibler Kurzschluss (wie alles, was als Metapher überzeugt). Denn wie soll das gehen: »Gewalt herrscht«? Sie ist kein Subjekt, sondern Herrschaftsmittel (genauer: Herrschaftserzwingungsmittel, Herrschaftssicherungsmittel. Man herrscht nicht mit Gewalt, man herrscht Dank Gewalt). Unter diesen Mitteln gehört sie zu den auffälligeren; sie tut weh, man will sie daher häufig noch dringender loswerden als die Herrschaft selber (der »gute König« erscheint als etwas Wünschenswertes, weil es den bösen gibt und der die Leute schinden lässt).

Gewalt ist eine spürbare Handlung oder eine abzählbar große, vielleicht potentiell unendliche Menge solcher Handlungen, selbst in dieser Unendlichkeit aber immer etwas Konkretes (man kann die einzelnen Gewaltakte benennen und beschreiben, es lässt sich sagen »wer - wen« et cetera). Herrschaft dagegen ist eine Beziehung (die, wenn sie sich überhaupt irgendwie »anfühlt«, nicht als körperliche Empfindung, sondern als Zustand gewordene Handlungsdisposition erlebt wird). Über Beziehungen, Handlungsdispositionen und dergleichen denkt man, wenn man unter Gewalteinwirkung steht, nicht mehr klar nach. Von Pawlow bis Freud, Skinner bis Festinger sind sich die meisten, die dem Problem genauer nachgegangen sind, einig darin, dass Gewalt das Nachdenken über alles mögliche, vor allem aber über Gewalt, sehr grundlegend stört bis verhindert.

Johannas Bild hängt schief. Aber politische Kunst ist nicht dazu da, Bilder geradezuhängen (dafür hat man Aufklärung), sondern dazu, welche zu finden, die an den Denkstörungen und Empfindungshemmungen vorbeiwirken, unter denen die Individuen abgestumpft, in die sie eingekerkert, denen sie ausgeliefert sind und die ihnen ihr Nichthandeln in der ungerechten Welt plausibel, ja alternativlos vorkommen lassen. Der Trick, den Brecht hier zünden lässt, ist ein doppelter:

Erstens verspricht der Satz etwas dadurch, dass die, die ihn sagt, sich immerhin traut, die Gewalt überhaupt beim Namen zu nennen, und sie schon damit objektiviert (was nichts anderes besagt, als dass sie diese Gewalt einer Diskussion zugänglich macht, die mögliche Verabredungspartner darüber führen könnten, wie man sie bricht und die von ihr gestützte Herrschaft stürzt) - sie spricht, als wäre sie dem Wirkungskreis der Gewalt bereits entzogen.

Zweitens, und wichtiger, rückt der Satz formal der abstrakten Struktur hinter der Gewalt, dem Unrecht, auf den nur scheinbar unverwundbaren Leib - Unrecht ist ein asymmetrisches Verhältnis, Johannas Satz aber wiederholt das Wort »Gewalt« auf den beiden Seiten, die von den zwei Parteien in diesem Verhältnis eingenommen werden, und setzt so zunächst gedanklich - aber implizit eben dadurch: praktisch, die beiden Verben reden ja vom Tun, vom Helfen oder Herrschen - genau diejenige Symmetrie, auf deren Verhinderung es den Gewalthabern zuallererst ankommen muss.

In der Gewalt, sagt Brecht, steckt die Möglichkeit zur Gegengewalt. In der Untersuchung der Gründe für das Vergessen von historischen Linken - aus der Erinnerung gedrängt durch systemische Gewalt - steckt die Chance, eine andere Art von Geschichte zu schreiben (und zu machen) als die, die wir vorfinden.

Spricht man von solchen Chancen, klingt das schnell bieder und naiv - die leerste Form des Nichteinverstandenseins und der Hoffnung zugleich ist die beliebte Parole »Eine andere Welt ist möglich«.

Wenn »möglich« nicht mehr als »denkbar« heißt, hat man damit so gut wie nichts gesagt: Sehr vieles ist denkbar, für dessen Verwirklichung man besser keine Kraft vergeuden sollte, weil es zwar gedacht, aber aus inneren, äußeren, logischen oder historischen Gründen nicht gemacht werden kann. Das Machbare an dem, was sich zu hoffen lohnt, interessiert uns, und umgekehrt das Wünschenswerte am Machbaren.

Wir haben den Begriff »Implex« bei Paul Valéry gestohlen und unser Buch danach benannt, weil wir den Gedanken, den er damit bezeichnet - in einer Sache stecken verschiedene Möglichkeiten, die Zukunft eines Dings ist in seiner Gegenwart eingekapselt und an ihr ablesbar, nicht als zwangsläufige, sondern als Katalog von Optionen - für etwas halten, das sich sehr gut auf Gesellschaftskritik anwenden lässt. Unser Interesse gilt dem sozialen Fortschritt; darunter verstehen wir den mit Wissens- und Produktivitätszuwächsen verbundenen Gewinn an Freiheit, Teilhabe, Auskommen für immer mehr Menschen und die gleichzeitige Beseitigung von Ausschluss, Unterdrückung, Ausbeutung.

In unserer Definition ist der Implex eines sozialen Sachverhalts (zum Beispiel einer Gesellschaftsordnung) all das, was wahrscheinlich genug ist, dass menschliches Handeln es bewirken kann. Zum deutschen Implex des Jahres 1932 gehörte also der Faschismus ebenso gut wie der ihn vielleicht verhindernde Generalstreik und manches andere, nicht aber beispielsweise die Einführung der Atomenergie in Bayern oder Preußen. Was, weil die materiellen Voraussetzungen fehlen, kein Mensch bewirken kann, gehört nicht dazu. Wir haben diesen Begriff so bestimmt und in unserem Buch an geschichtlichen Tatsachen aus Politik, Wirtschaft, Ästhetik ausprobiert, weil wir glauben, dass die meisten bisherigen Fortschrittstheorien sich an dem Scheinproblem »kommt der Fortschritt oder kommt er nicht?« die Zähne ausgebissen haben.

Fortschrittstheorien dürfen nicht deterministisch sein; sie müssen - nicht nur von den Naturwissenschaften, auch aus der Ästhetik, wie der Fall Valéry lehrt - den Umgang mit Wahrscheinlichkeiten lernen, wenn sie ihrer Sache gerecht werden wollen. »Der Implex« ist also ein Begriff, den wir als Beschreibung von Startfenstern für Veränderung nutzen wollen, nicht für eine Heilslehre, etwas Utopisches oder Apokalyptisches. Weder das, was ist, noch das, was sein kann, noch das, was sein wird, noch das, was sein soll, ist der feste Grund und Boden, von dem Theologie wie Spekulation jahrtausendelang glaubten, seine Beschaffenheit oder Lage im Weltganzen angeben zu können, um von da aus dann zu konstruieren, wie es weitergehen muss.

Es gibt überhaupt keinen festen Grund und Boden dieser Art, auch wenn man viele Namen dafür erfunden hat: »Letzte Dinge« (das »Eschaton«), Weltgeist, Entelechie, Orthogenese, »Esemplasy« (Samuel Taylor Coleridge). Dies alles sind Wörter für Sachen, bei denen man sich viel denken, mit denen man aber nichts machen kann. Sie wollen allen Handlungsergebnissen vorgreifen und die Praxis auf theoretisch Bestimmbares reduzieren. Das Wichtigste, was der Implex uns dagegen als Begriff leisten soll, ist die systematische Weigerung, dieser Reduktionsversuchung nachzugeben.

Er ist kein archaischer, kein erster unter anderen und kein letzter, kein messianischer, kein Tiefenfund, sondern ein spätes, aber bewusst vorläufiges Produkt der Geschichte des Fortschrittsdenkens. Er ist für unseren Zweck, die Idee des sozialen Fortschritts von den Brandmalen der Niederlagen konkreter historischer Versuche zu reinigen, die diesen Fortschritt verwirklichen wollten, der nützlichste aller denkbaren Begriffe in dem Sinne, in dem der Philosoph Leibniz die vorhandene Welt die »beste aller möglichen Welten« nannte. Er ist dafür oft angefeindet worden; die Zuversicht, die man jenem Einfall später übelnahm, ist aus der Weltbetrachtung der modernen, der kritischen Zeiten gründlich entfernt worden. Man hat Leibniz sehr missverstanden: Er war nicht der Meinung, diese Welt sei nicht zu verbessern (sonst hätte er, wie der unlängst verstorbene Leibniz-Anhänger Hans Heinz Holz zu betonen nicht müde wurde, kaum soviel Arbeit in Verbesserungsvorschläge, in Forschung und ins Argumentieren investiert).

»Die beste Welt« war die vorhandene für Leibniz deshalb, weil sie nicht abgeschlossen ist, weil sie die Chance zu ihrer Verbesserung enthält. Er wusste, dass Wirklichkeit und Möglichkeit keine starr einander gegenüberstehenden Größen sind, weil es zur Wirklichkeit gehört, dass sie Möglichkeiten öffnet. Jede soziale Situation hat ihren Implex, und der nächste Schritt, den er erlaubt, das wollen wir beweisen, kann immer auch ein Fortschritt sein.


Als »neue Bibel der Kapitalismuskritik« hat der »Freitag« Barbara Kirchners und Dietmar Daths jüngst erschienenes Buch »Der Implex« bezeichnet. Zumindest was den Umfang betrifft, liegt der Vergleich nicht daneben: 880 Seiten. Statt einer Heils- und Wahrheitslehre entfaltet der wissenspralle Wälzer den Gedanken, dass »sozialer Fortschritt« nicht passiert, sondern von Menschen erkämpft und gestaltet wird. Was in welcher historischen Situation von wem überhaupt gemacht werden kann, und warum - diesen Fragen gehen Kirchner und Dath anhand der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Geschichte etwa der vergangenen 300 Jahre nach. Der Begriff »Implex« beschreibt dabei den Zusammenhang von Möglichem, Wahrscheinlichem und Tatsächlichem.

Keine »neue Bibel der Kapitalismuskritik« ist dieses Werk, aus dem von den Autoren gekürzte und bearbeitete Passagen auf dieser Seite zu lesen sind, eher die Geschichte eines aufgeklärt denkenden Handelns, das darauf abzielt, »die Menschheit als Gattung überhaupt erst herzustellen«. Ein »Roman in Begriffen« - so nennen es Kirchner und Dath.
mha

Dietmar Dath, Barbara Kirchner: Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee. Suhrkamp, 880 S., brosch., 29,90 €.

Buchpremiere, moderiert von Georg Fülberth, am 21.2., 20 Uhr, im Literaturforum im Brechthaus, Berlin-Mitte.

Der Implex
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