Bausteine für eine Bibliothek der Erinnerung
In Frankfurt an der Oder haben die »Roten Federn« einen neuen Zeitzeugenband herausgegeben
»Lebenszeiten« heißt das neueste Werk der eifrigen Schreiber in der deutsch-polnischen Grenzstadt rund um den LINKE-Politiker Erik Rohrbach, die den nd-Lesern inzwischen als »Rote Federn« bekannt sind. Fünf Autoren erinnern sich an ihre Kindheit im Krieg, an die Jugend, das Leben in der DDR mit all seinen Widersprüchen. »Die Wege, die wir fünf gegangen sind, gleichen sich nicht, aber haben sich am Schluss vereint«, sagt der 92-jährige Gerhard Stockenberg zu Beginn der Buchvorstellung. Er wird wenig später fast ein wenig verlegen gestehen, dass er, der Arbeiterjunge, der schon 1948 nach der Rückkehr aus französischer Gefangenschaft für sich ganz allein geschrieben hat, viele seiner damaligen Manuskripte erst nach 60 Jahren wieder aus der Schublade gezogen hat.
Das Projekt der »Roten Federn« hat ihn wie viele andere in Frankfurt ermutigt, aufzuschreiben, was ihr Leben ausmachte - um, wie Initiator Rohrbach sagt, Geschichte und Geschichten um die DDR nicht jenen zu überlassen, die sie gar nicht erlebt haben. Schon elf Bände von Zeitzeugenberichten - gepresst zwischen zwei Buchdeckel im Miniformat - haben die »Schreibwütigen« rund um den LINKEN-Kreisverband der Oderstadt seit 2007 vorgelegt. Und Stockenberg hat schon wieder zwei neue Bücher in der Mache. »Die Zeit, die ich noch habe«, so der späte Autor, »nutze ich auch weiterhin, mit meinen Möglichkeiten als Linker für eine friedliche und solidarische Gesellschaft einzutreten und auch mit meinem geschriebenen Wort dazu meinen persönlichen Beitrag zu leisten.«
Louise Stebler-Keller ist die einzige aus dem Autorenkollektiv, die nicht zur Buchpremiere gekommen ist. Kein Wunder, die Anreise aus Basel wäre für die 88-Jährige auch ein wenig beschwerlich gewesen. Zugegen war sie dennoch, weil sie nach einer nd-Veröffentlichung über die Frankfurter mit Rohrbach Verbindung aufnahm und, durch ihn ermuntert, ein Werk über ihre Zeit als Widerstandskämpferin und Friedensaktivistin verfasste.
Der inzwischen auch fast 90-jährige Professor Rübensam, über 20 Jahre Präsident der Landwirtschaftsakademie der DDR, ist froh, von den Buchmachern mit einbezogen worden zu sein - empfiehlt dem Publikum nachzulesen, was er geschrieben hat und nutzt hernach seinen Auftritt vor etwa 80 Besuchern im »Restaurant zur Alten Oder« für einen kurzen wissenschaftlichen Exkurs über die Ernährungssituation in der Welt, Ressourcen-Endlichkeit und beängstigende Klimaveränderungen.
Sein früherer Kollege Horst Dahlmann wiederum hat sich zunächst mit Zweifeln herumgeschlagen. Warum sollte er aufschreiben, was doch Millionen erlebt haben? Aber die Situation von Tausenden Arbeitslosen, Hartz-IV-Betroffenen und Niedriglöhnern - und die Wut über den auch in seiner Heimatstadt grassierenden Rechtsextremismus ließen ihn denn doch zur Feder greifen.
Schließlich gehört Rohrbach selbst, Verfasser von mehr als drei Dutzend eigenen Minibüchern, zu den Autoren der Edition. Er hat die Spontanveröffentlichung der »Lebenszeiten« genutzt, um über Menschen zu berichten, die ihn, den ehemaligen FDJ-Funktionär und Trassenbauer, prägten.
Hans Modrow, Vorsitzender des Ältestenrates der Linkspartei, hat nicht nur das Geleitwort zum neuen Band verfasst - er ist auch der eigentliche Held des Abends. Seine Ermunterung »Erinnerungen weiterzutragen ist nicht nur wichtig für andere, sondern hilft einem selbst«, quittieren viele mit Kopfnicken. Ein wenig trotzig gar, als Modrow darauf verweist, die herrschende Politik sei gar nicht darauf erpicht, dass Menschen ihre Lebenserfahrungen »und schon gar nicht mit roter Feder« notieren. Es versteht sich von selbst, dass der einstige DDR-Ministerpräsident nicht beim Minibuch stehenbleibt: Brandenburger Enquetekommission, Gauck, Lateinamerika, Exilliteratur, linke Politik - die, die mit ihren Erinnerungen zur Aufklärung beitragen wollen und auch jene zahlreichen Zuhörer, die bislang mit Modrows Partei nicht viel am Hut hatten, absolvieren an diesem Abend ein anstrengendes Bildungsprogramm. Und das sichtlich ohne Ermüdungserscheinungen.
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