Unser Dorf soll besser werden
Seit 15 Jahren gibt es in der Altmark das Ökodorf Sieben Linden - ein Experiment , das Vorbild sein will
In Sieben Linden gibt es keine Kirche. Ein Kindergarten ist zu finden, ein kleiner Laden, sogar eine Telefonzelle. Eine Kirche aber, wie sie in den Dörfern rundum in der Altmark oft seit Jahrhunderten das Ortsbild prägt, sucht man vergebens. Allerdings ist Sieben Linden auch noch nicht Jahrhunderte alt. Erst vor 15 Jahren wurde der Ort gegründet, wo zuvor nur Kiefern, Getreide und Kartoffeln wuchsen.
Um ein Dorf in einer Gegend zu gründen, deren Orte sonst immer leerer und älter werden, braucht es Gründe. Die hatten die ersten Bewohner. Schon seit 1989 hegten sie Ideen für eine neue Art Siedlung; ein Dorf, das mit der umgebenden Natur im Einklang leben, in dem aber auch die Bewohner eine Gemeinschaft bilden sollten; in dem sie sich so weit wie möglich selbst versorgen und ihr Leben nicht auf viele Schubladen aufteilen wollten: hier Arbeit, da Freunde, dort Familie. Dieses Dorf soll besser werden: ein »Experiment in Sachen Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit«, sagt Gabi Bott.
Wohnwagen und Häuser aus Stroh
Bott, die als Landschaftsökologin und für die Grünen arbeitete und seit elf Jahren in Sieben Linden lebt, führt durch einen Ort, der sich schon äußerlich von den umliegenden Altmark-Dörfern mit ihren Backsteinhäuschen und den gepflegten, aber strikt eingezäunten Vorgärten unterscheidet. Autos parken am Eingang; im Dorf sind sie - ebenso wie Handys - unerwünscht. Dort stehen, verstreut zwischen Bäumen, Wiesen und Kräutergärten, ein Dutzend Häuser, auf deren Dächern oft Solarzellen blinken, und viele Bauwagen, die an das mobile Heim von Peter Lustig aus der TV-Sendung »Löwenzahn« erinnern. Weil nur mit Holz geheizt wird, sind lange Holzstapel allgegenwärtig.
Derlei Details zeigen, warum der Ort als »Ökodorf« bezeichnet wird. Die Bewohner von Sieben Linden wollen so wenig wie möglich in die Natur eingreifen und sparsam mit Ressourcen umgehen. Das Wasser kommt aus Brunnen und landet in einer Pflanzenkläranlage, die zwischen Gemüsegärten liegt und nur durch viele Rohrstutzen zwischen dem Schilf auffällt. Der Strom für Licht und Laptops kommt zum Gutteil aus fünf Sonnenstrom-Anlagen. Die Häuser bestehen aus Holz, Lehm - und Strohballen. Die alte Bautechnologie wurde in Sieben Linden so weit perfektioniert, dass mittlerweile Architekten und Bauleute aus ganz Deutschland in die Altmark kommen und lernen.
Der Geist und der wirkliche Anspruch von Sieben Linden freilich zeigt sich nicht so sehr in Solarzellen oder den Wasser sparenden Kompost-Klos. Man beginnt ihn eher in einem Gemeinschaftshaus zu spüren, das im alten Aussiedlerhof eingerichtet wurde, dem einzigen alten Gebäude. Dort trifft man sich zum Essen, dessen Zutaten nicht selten im eigenen Garten wachsen, und zu Gesprächen, die mehr sind als ein Schwatz über den Gartenzaun. In Sieben Linden will man miteinander leben, nicht nebeneinander: »Wir wollen kein Dorf sein, das vielleicht Gemeinschaft wird«, sagt Gabi Bott, »sondern eine Gemeinschaft, die ein Dorf wird.«
Das ist ein hehrer Anspruch, der alles andere als einfach umzusetzen ist. Gemeinschaftlich zu leben heißt nicht nur, dass etwa in der Küche für alle gekocht wird und Lebensmittel sowie Alltagsbedarf gemeinsam eingekauft werden, wofür jeder Dorfbewohner in eine Haushaltskasse einzahlt. Es heißt auch, dass Kinder über diese Kasse von allen mitgetragen und Häuser nicht als Eigenheim gebaut werden. Sie werden vielmehr von »Nachbarschaften« mit mindestens drei, oft mehr Erwachsenen errichtet; Eigentümer bleibt eine eigens gegründete Genossenschaft. Die Nachbarschaften einigen sich - so wie das Dorf insgesamt - auf Regeln und Grundsätze für ihr Zusammenleben. Eine Fülle von Absprachen für die verschiedensten Lebensbereiche ist notwendig. So wurde in Sieben Linden lange diskutiert, ob und wie Tiere gehalten und genutzt werden dürfen. Wegen der hohen Ansprüche an eine artgerechte Haltung wird heute nicht nur in der Küche meist vegan gekocht; auch Hunde gibt es in Sieben Linden nicht: Wegen der vielen Besucher müssten sie zu oft an die Leine.
Nach passenden Wegen, auf denen solche und alle anderen Entscheidungen getroffen werden, hat man in Sieben Linden lange gesucht. Alle Entscheidungen in einem Plenum zu treffen, erwies sich schon bei gut 30 Bewohnern als langwierig und wenig produktiv, erinnert sich Gabi Bott; heute leben in Sieben Linden rund 100 Erwachsene mit 40 Kindern. Inzwischen gibt es daher gewählte Räte, die einzelne Themen besprechen; nur die allerwichtigsten Entscheidungen fällt die Vollversammlung.
Der sehr weitgehende Anspruch an ein Leben in Gemeinschaft stellt auch jenseits praktischer Alltagsentscheidungen hohe Ansprüche an die Bereitschaft, miteinander zu reden, sich auszutauschen und zu öffnen - viel höhere, als auch Mitbegründer wie Eva Stützel vermuteten. Sie gehörte einst zu den ersten Siedlern, die sich zunächst im Altmarkdorf Groß Chüden niederließen und dann unweit des Dörfchens Poppau eine geeignete Fläche und, was mindestens genauso wichtig war, auch aufgeschlossene Nachbarn fanden. Stützel hat sich mit dem Leben in der Gemeinschaft von Sieben Linden einen »Lebenstraum« erfüllt - aber auch erkennen müssen, dass »das Soziale nicht, wie ich anfangs dachte, nur das Nette ist, sondern richtige Arbeit«. Ein Grund: Vor Streitigkeiten mit Nachbarn oder Kollegen kann man, wo alle Lebenssphären ineinander übergehen, nicht in Verein oder Familie fliehen. Das Leben in Gemeinschaft sei »eine Sehnsucht«, sagt Stützel: »Aber es fordert den ganzen Menschen.«
Weder Landidyll noch Ort zur Weltflucht
Nicht alle derjenigen, die sich nach Sieben Linden aufgemacht haben, konnten oder wollten diese Herausforderung annehmen. Ohnehin müssen sich Zuzügler bewusst sein, dass sie nicht in eine Idylle, sondern in ein Ökodorf mit politischem, womöglich gar visionärem Anspruch ziehen. »Nur auf dem Land leben zu wollen, reicht nicht aus«, sagt Gabi Bott. Trotz seiner abgeschiedenen Lage ist Sieben Linden auch kein Ort der Zuflucht vor einem nicht mehr erträglichen Alltag. Wer Problemen entkommen wolle, sei im Dorf nicht richtig, betont Bott: »Wir sind ja keine therapeutische Einrichtung.«
In einem nicht ganz unaufwendigen Prozess der gegenseitigen Annäherung - auf zwei Seminare folgt eine einjährige Probezeit und schließlich eine Entscheidung der Vollversammlung - sucht das Dorf vielmehr nach Menschen, die sich auf ein radikales Experiment mit durchaus offenem Ausgang einlassen und dafür Ideen entwickeln wollen - in ökologischer und sozialer, aber auch in ökonomischer Hinsicht. Schließlich soll auch die Arbeit so organisiert werden, dass sie Teil eines erfüllten Lebens ist und nicht nur notwendiges Übel, um dieses finanzieren zu können.
Auch das ist nicht ganz einfach, zumal in einer Gegend, in der viele Menschen nicht einmal einen Job finden. Einige Arbeit bietet Sieben Linden selbst: im Garten, der 70 Prozent des Bedarfs an Gemüse, Obst und Kräutern deckt, und im Waldkindergarten, in der Küche, bei Holzeinschlag und Häuserbau. Ein Dutzend Bewohner sind in die Seminare und Kurse einbezogen, die Hunderte Gäste anziehen. Allerdings würden noch mehr Ideen für Produkte gebraucht, die Abnehmer auch jenseits des Dorfes finden - und zu Einnahmen verhelfen, sagt Eva Stützel. Das anfängliche Ideal, sich vom Geldkreislauf weitgehend verabschieden zu können, habe sich nicht wie erhofft umsetzen lassen.
Eine erfolgreiche Idee hat Jörg Zimmermann entwickelt, ein studierter Landwirt, der nicht auf sich allein gestellt ein paar Felder bestellen wollte. Er betreibt jetzt mit einem Partner die »Wilde Sieben«, einen Versand für Wildkräuter, der bundesweit Kunden mit frischem Löwenzahn und Giersch, Vogelmiere und Brennnessel beliefert - frische Zutaten für gesunde Salate. Die Nachfrage ist so groß, dass der Umsatz sich seit Jahren verdoppelt und bald mehr Dorfbewohner mitarbeiten können - wie auch in einer Firma für Rohkostartikel, die er ebenfalls ins Leben gerufen hat.
Die Arbeit wächst hier auf der Wiese
Der Gründer der »Wilden Sieben« wirkt glücklich mit der Arbeit, für die er die »Rohstoffe« an den Hecken und auf den Wiesen des Dorfes findet. Kein Neun-bis-fünf-Job, sondern selbstbestimmtes Arbeiten im Einklang mit Natur und Gemeinschaft - dieses Ideal streben viele der Bewohner in Sieben Linden an. Zur Realität gehört freilich auch, dass selbst der erfolgreiche Unternehmer gesteht, dass er von den Erträgen der »Wilden Sieben« zwar gut leben kann, aber weder Reserven für Hausbau noch für eine Rentenversicherung hat.
In materieller Hinsicht, das bestätigt auch Eva Stützel, sind viele Bewohner von Sieben Linden nicht reich gesegnet. Der Reichtum, fügt sie an, sei ein anderer. Er lässt sich in Begriffen wie »selbstbestimmtes Leben«, Gemeinschaft, Solidarität und Verbundenheit mit der Natur fassen - Werte, die sich nicht in Geld aufwiegen lassen. In Sieben Linden, sagt die Mitgründerin, wohnen »Menschen, die ihr Leben in die Hand nehmen und Träume realisieren«. Es scheinen Träume zu sein, die weit verbreitet sind im Land. Die Kurse sind gut besucht, die Seminare für mögliche Neusiedler ausgebucht, und wenn an jedem ersten Sonntag im Monat zum öffentlichen »Sonntagscafé« geladen wird, kommen viele Besucher von weit her. Eine Kirche vermisst kaum einer von ihnen.
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