»Wie ein persönlicher Holocaust«

Eine israelische Familie rebelliert gegen den Wunsch nach Vergeltung

  • Andreas Boueke
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Elhanans, die in den westlichen Hügeln Jerusalems wohnen, mögen als eine ungewöhnliche jüdische Familie gelten. Trotz leidvoller Erfahrung haben sie die Linie überschritten, die sie von den Palästinensern trennte.
Siedlerkinder im Westjordanland werden oft früh militarisiert.
Siedlerkinder im Westjordanland werden oft früh militarisiert.

Freitagnachmittag im israelischen Hörfunk. Guy Elhanan moderiert seine kontroverse Talkshow mit dem arabischen Titel »Netuley Harta« - kein Müll. Es geht um das Mit- und Gegeneinander von Juden und Arabern in Israel, im Gaza-streifen und im Westjordanland. Guys Gesprächspartner ist Aziz Abu Sarah, ein palästinensischer Journalist. Noch vor wenigen Jahren wäre der nicht einmal auf die Idee gekommen, mit einem jüdischen Moderator im Radio aufzutreten. »Ich war sehr aktiv in der Anti-Friedensbewegung«, erzählt er. »Als 13-Jähriger habe ich mich der palästinensischen Partei Fatah angeschlossen. Damals habe ich geschrieben, dass Israel ein terroristisches Land ist, mit dessen Bürgern wir nie reden und Kompromisse schließen dürfen. In diesem Denken bin ich aufgewachsen. Der Umstand, dass ich jetzt in der Sendung von Guy bin, ist Beleg für eine große Veränderung in meinem Leben.«

Guy Elhanan ist 37 Jahre alt. Seine Eltern, sein Onkel und sein älterer Bruder sind bekannte israelische Friedensaktivisten, die sich um Aussöhnung mit den Palästinensern bemühen. Von militanten rechten Israelis werden sie auf einschlägigen Seiten des »weltweiten Netzes« mit Kübeln von Verachtung überschüttet.

Wer verantwortet Smadars Tod?

Guy hatte auch eine Schwester, Smadar. Sie starb 1997, als sich zwei palästinensische Selbstmordattentäter in die Luft sprengten. Am Tag der Beerdigung forderte die trauernde Mutter alle Anwesenden zur Aussöhnung mit den Palästinensern auf. Sie sagte, die israelische Besatzungspolitik sei verantwortlich für den Tod ihrer Tochter. Das war ein Affront, mit dem sie viele ihrer Freunde vor den Kopf stieß. Sie waren zum Begräbnis gekommen, um ihr Beileid auszusprechen, aber auch, um öffentlich Vergeltung und Genugtuung zu fordern.

Guy wohnt in Motza, einem Stadtteil wohlhabender jüdischer Familien in den westlichen Hügeln Jerusalems. Neben der Eingangstür des Hauses seiner Eltern hängt ein Schild mit dem Namen der Familie Elhanan. Darüber ist ein bunter Aufkleber angebracht, auf dem vier englische Worte stehen: »Free Palestine from occupation« - Befreit Palästina von der Besatzung. Ungewöhnlich, dass eine jüdische Familie in Israel eine derartige Sympathiebekundung abgibt. Unter den meisten israelischen Juden gilt dieser Satz als linksradikal, wenn nicht gar als Aufruf zum Terrorismus.

Das Arbeitszimmer von Guys Vater ist voller Bücher. An der Wand hängen schwarz-weiße Fotos. Guy deutet auf eines der Bilder. »Mein Großvater, Matti Pelet. Er war General im Krieg 1967. Damals war Israel militärisch sehr erfolgreich. Danach hat er seine Ansichten geändert und wurde ein militanter Friedensstifter. Er hat eine arabisch-jüdische Partei mitgegründet und wurde Abgeordneter der Knesset. Später hat er arabische Literatur übersetzt.«

Guy ist schlank, er trägt einen Vollbart. Offenbar ist schon länger kein Kamm mehr durch sein braunes Haar geglitten. Er sagt, politische Inhalte seien ihm wichtiger als Äußerlichkeiten und Ordnung. Das war schon so, als er noch ganz klein war. »Ich kann mich erinnern, wie ich als Siebenjähriger auf Demonstrationen gegen Yitzhak Rabin, den damaligen Verteidigungsminister, angeschrien habe. Es gab da dieses Lied: ›Rabin, Rabin, wie viele Hände hast du heute gebrochen?‹ Von ihm stammte die Aufforderung, Kindern, die Steine werfen, die Hände zu brechen.«

Eigentlich aber, sagt Guy, habe er eine behütete Kindheit erlebt, unbelastet von den sozialen Unruhen jener Zeit. Auch seine Jugend sei nicht wesentlich anders verlaufen als die der meisten jungen Juden in Israel während der 80er und 90er Jahre. Seine kleine Schwester Smadar war damals eine seiner wichtigsten Bezugspersonen. »Wir waren uns sehr nah. Ich kam gerade aus der Pubertät raus, als sie rein kam. Wir haben viele neue Erfahrungen miteinander geteilt, die erste Liebe, der erste Kuss. Über solche Sachen haben wir gesprochen. Es war die Zeit, in der Geschwister wieder zueinanderfinden, nachdem sie sich lange Zeit angemuffelt haben.«

Die Geschwisterbeziehung wurde abrupt zerstört. Smadar war 14 Jahre alt, als sie starb. »Wir waren vier Geschwister. Sie war das einzige Mädchen. Es passierte auf ihrem Schulweg. Sie starb zusammen mit fünf weiteren Zivilisten. Ich habe oft über die beiden Attentäter nachgedacht. Sie stammten aus einer Familie vom Land, geradezu das Klischee einer palästinensischen Familie, patriarchal und all das. Ich habe die Trauer in den Augen ihrer Mütter gesehen. Es sah genauso aus wie bei meiner Mutter. Sie haben denselben Schock erlebt.«

Nach dem Militärdienst aus dem Land geflohen

Kurz vor Smadars Tod hatte Guy seine Militärzeit begonnen. Wie jeder junge Israeli musste er drei Jahre lang Dienst in Uniform leisten. »Am Ende meines Militärdienstes bin ich praktisch aus dem Land gerannt und kam sechs Jahre lang nicht zurück. Einerseits musste ich lernen, mit dem Trauma umzugehen. Andererseits musste ich mich mit der Realität in Israel auseinandersetzen, die immer blutiger und tödlicher wurde.«

Zu jener Zeit war die sogenannte Zweite Intifada ausgebrochen, ein Aufstand der Palästinenser, in dessen Verlauf über tausend Israelis und etwa dreimal so viele Palästinenser ums Leben kamen. Guy meint, seither lebten beide Gruppen noch abgeschotteter voneinander als zuvor.

Die Tür geht auf. Guys Vater kommt herein, Rami Elhanan. Er ruft seinen Sohn zum Abendessen. Am Tisch diskutiert die ganze Familie über die israelische Besatzungspolitik. Rami Elhanan meint, man könne die Gegenwart nicht verstehen, wenn man nicht auch die Erfahrung der Juden während des Dritten Reiches in Betracht ziehe: »Die Erinnerung an den Holocaust ist ein zentrales Thema für unsere Identität, für unser Verhalten. In meinem Fall stecken die Gefühle so tief, dass ich keine Kontrolle über sie habe. Ich halte oft Vorträge vor deutschen Gruppen. Deshalb bin ich schon häufig nach Deutschland eingeladen worden. Aber es ist mir unmöglich, in dieses Land zu reisen. Ich kann es schon nicht ertragen, nur die Sprache zu hören. Mein Vater war ein Jahr lang in Auschwitz. Er kam aus Ungarn und hat am Todesmarsch teilgenommen. Dort hat er die meisten seiner Familienangehörigen verloren.«

Es waren Deutsche, die Rami Elhanans Vater ins KZ gesperrt und seine Onkel und Tanten ermordeten. Und es waren Palästinenser, die seine Tochter getötet haben. »Ein Kind zu verlieren ist wie ein persönlicher Holocaust«, sagt er. »Du versuchst jeden Morgen, einen Grund zu finden, um aus dem Bett zu kommen und weiterzuleben. Du suchst ein neues Ziel für dein Leben. Das entscheidende Erlebnis für mich war es, trauernde palästinensische Angehörige von Opfern des Konflikts mit uns Israelis kennenzulernen. Da ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass ich solche Leute nie zuvor getroffen hatte, obwohl ich mein ganzes Leben lang neben ihnen gewohnt habe. Aber ich bin nie über die Linie gegangen, die uns voneinander trennt. Von diesem Moment an habe ich mich der Aufgabe gewidmet, überallhin zu gehen und zu sagen, dass wir nicht verloren sind. Wir können unser Schicksal ändern, indem wir miteinander sprechen. Die Lösung ist nicht im Vergeben oder Vergessen, sondern es geht ums Reden, mit Palästinensern, mit Deutschen, mit Siedlern, mit Gegnern des Zionismus, mit Zionisten - reden.«

Warum werden junge Menschen zu Monstern?

Seit dem Tod seiner Tochter hat Rami Elhanan viele Details über den Alltag der Palästinenser unter israelischer Besatzung erfahren. Sie fühlen sich eingesperrt in ihren Dörfern, die sie nicht verlassen dürfen. Sie werden von jungen israelischen Soldaten schikaniert. Jeder Versuch des Aufbegehrens ist lebensgefährlich. Jüdische Siedler nehmen ihnen ihr Land. Die Besatzer bauen Wachposten und eine große Mauer... Ramis Frau Nurit Pelet meint gar, es gebe Parallelen zwischen dem deutschen Faschismus und der Situation in den besetzten Gebieten. Sie hat keine Skrupel, die Verbrechen der Nazis mit der Politik ihrer Regierung zu vergleichen. »Über den Faschismus habe ich gelesen, was ich lesen musste. Ich wollte immer wissen, wie es sein kann, dass Menschen so etwas tun. Aber jetzt stelle ich mir dieselbe Frage zu den Israelis. Wie ist es möglich, dass gute jüdische Jungen und Mädchen zu Monstern werden, sobald sie eine Uniform tragen? Diese furchtbaren Dinge, die unsere jungen Soldaten palästinensischen Kindern antun, zeigen uns, dass die Nazis nicht abartige Wesen waren. Es ist offenbar sehr leicht, so zu werden.«

Man könnte meinen, dass Nurit Pelet als Mutter und jetzt als Großmutter froh darüber ist, Guy wieder in ihrer Nähe zu wissen. Ist sie aber nicht. »Hier werden ständig Menschen getötet. Kinder werden ermordet. Das Leben ist gefährlich. In einem südfranzösischen Dorf wäre Smadar nicht ermordet worden. Ich hätte sie dorthin bringen sollen, aber ich habe es nicht getan.«

Guy weiß, dass seine Mutter sich Vorwürfe macht, und auch, dass sie nicht froh ist über seine Rückkehr nach Israel: »Ich habe sechs Jahre lang in Frankreich gelebt und hätte bleiben können. Ich weiß noch, wie ich dachte: ›Ja, meine Mutter hat recht.‹ Aber hätte ich mich entschieden, in Europa zu bleiben, dann hätte ich mein Land abgeschrieben. Ich hätte es den Fanatikern überlassen. Ich bin zurückgekommen und das bedeutet, dass ich noch immer Hoffnung habe, dass ich noch immer daran glaube, was so viele Menschen hier tun, um die Lage zu ändern.«

Guy Elhanan und seine Frau Noa in der Küche ihrer Wohnung
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