»Aufi, s'Vieh sammla!«
Aussteigen auf Zeit - Ein glücklicher Sommer auf der Sennalpe Ornach im Oberallgäu
Ohne meinen Morgenkaffee geht gar nichts - das war einmal. Inzwischen brauche ich morgens zuallererst Frischluft und Bewegung. Nicht, weil ich meinen Schreibtischjob aufgegeben habe und unter die Fitnessfreaks gegangen bin, sondern weil mich ein Sommer auf der Alpe verändert hat.
Aber von vorne. Als typischer Städter fehlte mir eigentlich nichts und doch plötzlich irgendetwas. Das tägliche Einerlei, die Hektik der Großstadt zehrte an meinem Seelenfrieden. Und so krabbelte er plötzlich aus meinem Unterbewussten hervor, der irre Gedanke ans Aussteigen - auf Zeit natürlich. Schließlich muss man ja seinen Lebensunterhalt auch noch verdienen, und Freundschaften lässt man auch nicht mir nichts dir nichts im Stich.
Dass ich just in diesem Augenblick am Kaffeetisch bei Freunden im Oberallgäu saß, mag Zufall gewesen sein - oder ein Hauch von Schicksal. Auf jeden Fall nahm mein Aussteigersommer noch am selben Wochenende konkrete Formen an. Mehrere Telefonate, ein Besuch im Bergdorf Bolsterlang im Allgäu, ein Handschlag, und schon stand fest: Ab Juni würde ich zusammen mit Marion und Mathias Martin, deren gerade geborenem Söhnchen Tobias und einem Hirten einen Sommer auf der Alpe Ornach unterhalb der Hörnerbahn-Mittelstation verbringen. Senn auf Zeit - das klang für mich urig, ein bisschen verrückt und sehr verlockend.
Zumindest, bis Senn Mathias Martin am ersten Morgen auf der Alpe unbarmherzig an meine Tür pochte. »Aufi, s'Vieh sammla!«, schallte es durchs Holz. Ich traute weder meinen Ohren, geschweige denn meinen Augen. Der Wecker signalisierte 4.45 Uhr, und draußen war's noch fast stockdunkel. Erst zweieinhalb Stunden später hielt ich die erste Tasse Kaffee in Händen - nach 40 eingesammelten Kühen, verteilt auf knapp 30 Hektar, nach 250 Höhenmetern im viel zu steilen Gelände und nach viel Schweiß sowie einer dicken Blase an der Ferse. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir nicht mehr sicher, ob mir der Sommer im klimatisierten Büro nicht doch besser behagt hätte. Hätte er nicht! Das sage ich inzwischen aus tiefstem Herzen. Denn schon nach wenigen Tagen war ich es, der dem morgendlichen »Vieh sammla!« schier entgegenfieberte - dem wattebauschigen Morgennebel auf den Weiden, dem kitschig-schönen Morgenrot über den Bergen. Der Stille ohne Autolärm und der würzig-schweren Bergluft, die mich Städter das richtige, tiefe Atmen lehren sollte.
Und noch etwas lernte ich bald: Ich erfuhr, wie Essen schmecken kann. Nicht jenes eingeschweißte Zeug aus dem Supermarkt, sondern grundehrliche, frische Produkte. Denn auf der Alpe Ornach werden nicht nur 600 Liter Milch am Tag zu Buttermilch, Trinkjoghurt, Quark, Fassbutter und preisgekröntem Käse verarbeitet - Berg- und Alpkäse, Schnittkäse, Kräuterkäse. Zur Sennalpe auf 1350 Metern Höhe gehören auch Hühner, rund 20 Schweine und Ziegen. Und schier Unmengen an Blaubeeren wachsen an den Berghängen. Da gab es also täglich frisch gelegte Frühstückseier statt Eier aus den Legebatterien, würzigen Bergkäse, Schinken, Speck sowie Landjäger von den eigenen Tieren und Marions grandiosen Blaubeerkuchen. Den backt sie zur Hochsaison jeden Morgen, denn zur Alpe gehören eine Sonnenterrasse und eine Gaststube. Täglich kommen Wanderer zu Kaffee, Kuchen, Brotzeit oder einem Glas frischer Milch vorbei.
In den Monaten auf der Alpe habe ich mich zum echten Genießer entwickelt und weiß jetzt, was gute Lebensmittel wert sind. Auch, weil ich Mathias regelmäßig in der Sennerei und im Käsekeller zur Hand gehen durfte. Zugegeben, der säuerliche Geruch dort war für mich gewöhnungsbedürftiger als mein ständiges »Stallparfum«. Das Grundhandwerk des Senns kannte ich bald - Lab und Kultur, Molke und Käsebruch waren keine Fremdworte mehr. Vor allem beim Käseschmieren, also der Pflege des reifenden Käselaibes, war ich gern dabei. Auch wenn es echte Männerarbeit ist, die bis zu 15 Kilo schweren Stücke aus den Regalen zu heben und zu wenden. Hier lag der eigenen Hände Werk in Form von gelbbraun schimmernden Rädern sichtbar vor Augen. Edlen Käse, wie jenen von Mathias Martin, kreiert nur, wer mit Liebe, Leidenschaft, Zeit, Wissen und Erfahrung an das alte Handwerk rangeht.
70 Hektar Weide gehören zur Genossenschaftsalpe Ornach - und so ging es bei fast jedem Wetter zudem raus in die Natur. Denn ohne eine entsprechende Pflege würden die Weiden schnell verwachsen, das grüne Allgäu wäre bald nicht mehr so grün, wie es die Urlauber kennen und lieben. Für mich bedeutete dies: Weiden mähen, Unkraut jäten, Steine wegräumen, Kuhfladen auf den Wiesen verteilen, Brennholz hacken, zwei Mal am Tag »s'Vieh sammla gehen«, melken sowie Ställe ausmisten und natürlich Käsen. Zwölf bis 14 Stunden umfassten die Arbeitstage, dann fiel ich todmüde ins Bett. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so gut geschlafen zu haben wie auf der Alpe Ornach.
Mein Sommer auf der Alpe war hart, keine Frage. Ich kenne jetzt Muskeln, die ich in meinem Körper nicht vermutet hätte. Trotzdem habe ich vor, in ein, zwei Jahren noch einmal den Schreibtisch im Stich zu lassen und die Bergstiefel zu packen. Denn der Lohn des Alpsommers war immens: Enzian, Silberdisteln und Alpenrosen vor grandioser Bergkulisse, der weite Blick ins Illertal, das Rehkitz auf der Lichtung, der kreisende Steinadler, die deftige Brotzeit in der Abenddämmerung. Auch das »Schweinderl« Felix, das mir so ans Herz wuchs. Ich habe wieder innere Gelassenheit gewonnen und war mitten in der Natur einen Sommer lang einfach glücklich.
Diesem Gefühl können Gäste der Region in diesem Sommer ebenfalls nachspüren - mit »Ein Tag als Senn auf Zeit«. Man bucht zur gewünschten Unterkunft das Tages-Paket »Senn auf Zeit« hinzu. Dann geht es exklusiv einen ganzen Tag lang mit dem Landwirtschaftsmeister Andreas Nußbaumer zur Ausbildung. Auf dem Stundenplan stehen Vieh einsammeln, Melken, Mähen, Bergkäsezubereitung. Eben alle Tätigkeiten eines Hirten und Senn, unter fachlicher Anleitung und mit einer anschließenden zünftigen Brotzeit auf der Alp. Das Tagesprogramm lassen die bis zu acht Teilnehmer abends bei einem urigen Kässpatzenessen auf der Hütte ausklingen.
»Senn auf Zeit« wird fachlich begleitet und gefördert durch das Bayerische Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und die Landesvereinigung der Bayerischen Milchwirtschaft mit Unterstützung des Amtes für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Kempten.
Infos und Buchung: Tourismus Hörnerdörfer GmbH, Am Anger 15, 87538 Fischen i. Allgäu, Tel: (0800) 255 42 38 (kostenfrei aus dem dt. Festnetz),- Fax: (08326) 36 46 56, E-Mail: info@hoernerdoerfer.de, www.hoernerdoerfer.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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