Ein Viertel Ja-Stimmen reicht
Ver.di lässt Mitglieder über Tarifabschluss abstimmen
Weit über 200 000 Beschäftigte hatten seit Februar in Warnstreiks ihren Willen bekundet, für 6,5 Prozent Lohnerhöhung zu kämpfen. Dem Vernehmen nach hat ver.di dabei über 23 000 neue Mitglieder gewonnen. Der Ende März ausgehandelte Tarifabschluss sieht eine Einkommenserhöhung rückwirkend zum 1. März um 3,5 Prozent vor. Zum Januar und August 2013 sollen die Löhne und Gehälter noch einmal um jeweils 1,4 Prozent steigen. Die Laufzeit des Tarifvertrages soll am 28. Februar 2014 enden.
Ist dies ein gutes Ergebnis? Darüber gehen die Meinungen unter den gewerkschaftlichen Akteuren weit auseinander. Etliche halten den Abschluss für vertretbar, weil zumindest für 2012 ein jahrelanger Trend zu Reallohnverlusten gestoppt worden sei. So spricht etwa der langjährige bayerische ver.di-Funktionär Michael Wendl von einem »tarifpolitischen Erfolg« und einem »positiven Signal für die Tarifbewegungen des ersten Halbjahres 2012«. Es könne »mit Entgelterhöhungen gerechnet werden, die auch im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt zu realen Lohnerhöhungen für das Jahr 2012 führen und die negative Verteilungsbilanz der letzten 12 Jahre geringfügig korrigieren«, so Wendl.
»Die auf das Jahr umgerechneten 3,15 Prozent Lohnerhöhung stellen nicht mal die Hälfte der aufgestellten Forderung dar«, moniert hingegen ein Infoblatt der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken. »Keiner weiß, wie sich in einem Jahr die Preise entwickeln werden.«
Das Blatt bemängelt, dass der von ver.di als »soziale Komponente« geforderte Pauschalbetrag von 200 Euro für die unteren Lohngruppen wiederum nicht vereinbart wurde. Dies sei ein »Schlag in das Gesicht aller kämpferischen Kollegen, die sich so toll an den Warnstreiks beteiligt haben«, so das Blatt. Und weiter: »Die unteren Einkommen müssen stärker erhöht werden, da sie in den letzten zehn Jahren am meisten verloren hatten und der Niedriglohnsektor sich in Deutschland extrem ausgeweitet hat.« Nun drohe »eine weitere Verarmung der unteren Einkommensschichten«, warnen die Gewerkschaftslinken. Der Vorstand habe »kein Mandat, diese Kernforderung ohne Rücksprache ersatzlos fallen zu lassen«, warnt der Arbeitsausschuss: »Untergräbt dies nicht sehr nachhaltig die künftige Bereitschaft, für Gewerkschaftsforderungen auf die Straße zu gehen, wenn der Vorstand diese Forderungen gar nicht ernst nimmt?«
Mit dem raschen Abschluss wurde nach Ansicht der linken Gewerkschafter auch eine Chance verpasst, mit einem Schulterschluss zwischen ver.di und IG Metall Zeichen zu setzen. Bei der Deutschen Telekom schwelt ein heftiger Konflikt. Aus einer Bündelung der Kräfte hätte rechtzeitig zu den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und NRW Anfang Mai eine »machtvolle gesellschaftliche Bewegung« werden können, ist sich Michael Schlecht, gewerkschaftspolitischer Sprecher im Vorstand der LINKEN und Ex-ver.di-Chefvolkswirt, sicher. »Wir hätten weite Bereiche lahmlegen können«, meint auch ein ver.di-Vertrauensmann aus Hannover auf nd-Anfrage. Doch solche Szenarien einer Kraftprobe zwischen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Politik sind nun vom Tisch.
Wie stark sich bei der Mitgliederbefragung der vorhandene Unmut in Nein-Stimmen niederschlägt, wird sich nach der Auszählung in zwei Wochen zeigen. Um das Ergebnis zu verwerfen und den Arbeitskampf fortzusetzen, müsste laut Gewerkschaftssatzung eine Dreiviertelmehrheit mit Nein stimmen. Umgekehrt reicht schon ein Viertel der Stimmen für die Annahme des Abschlusses.
Derweil malen Stadtkämmerer andere Folgen des Tarifabschlusses an die Wand. Sie warnen erneut vor Stellenabbau und Privatisierungen, weil sich die Kommunen die Lohnerhöhungen nicht leisten könnten. Solche »Sachzwänge« lässt Frank Kuschel nicht gelten. Der Landtagsabgeordnete und LINKE-Bürgermeisterkandidat in Arnstadt (Thüringen) ist überzeugt, dass »nur motivierte Mitarbeiter mit angemessener Vergütung« die Leistungskraft der öffentlichen Verwaltung sichern könnten. Das Problem der Kommunen liege vor allem bei den geringen Einnahmen; ihr Anteil am Gesamtsteueraufkommen sei seit Anfang der 1990er Jahre von 18 auf 13 Prozent geschrumpft, so Kuschel. Statt weiterer Privatisierungen müssten die Kommunen mehr Möglichkeiten zu wirtschaftlicher Betätigung erhalten. So könnten etwa mit Überschüssen im Bereich erneuerbarer Energien andere kommunale Aufgaben finanziert werden.
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