Leben in der Utopie

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 2 Min.

Die Jacke dieses Mannes ist blau, da gibt es gar keinen Zweifel. Wer in der DDR einer körperlichen Arbeit nachging, trug für gewöhnlich so eine Bekleidung - egal, ob er in einer Werkhalle stand, im Traktor saß oder die Kaninchen im Stall hinterm Haus fütterte. Rostock, 1990 - so lautet die Unterschrift unter dem schwarz-weißen Bild des Warnemünder Fotografen Siegfried Wittenburg. Wer sein frech-fröhlicher Protagonist ist, erfährt der Betrachter nicht, aber warum auch? Das Foto spricht über diesen Menschen wie eine kleine Erzählung. Fotografier mich ruhig, scheint der Mann zu sagen, vielleicht werden wir uns dieses Zeitdokument in einigen Jahren gemeinsam anschauen. Dann, wenn es so ein Umfeld, in dem ich hier stehe, nicht mehr geben wird. Wenn wir uns erinnern wollen.

Wer sich erinnern will, wird in dem Band des norddeutschen Autodidakten eine Fülle beeindruckender Bilder finden: Berührende Porträts wie die der jugendlichen Frauen am Arbeitsplatz. Interessante Alltagsbeobachtungen wie das ulkige Schild mit der Aufschrift »Hier arbeitet ein hervorragendes Schrankenwärterkollektiv«. Ungewöhnliches Anblicke wie Tausende Motorräder auf einer Waldwiese bei Teterow. Trostlose Straßenansichten aus der Rostocker Innenstadt im Jahr 1989. Jedes Foto steht für sich und ruft sofort Erinnerungen auf den Plan; auch, wenn man nicht aus dem Norden stammt. Doch die Gesamtheit der Sammlung - sie zeigt Fotos aus den Jahren von 1980 bis 1996 - steht auch für ein Zeitgefühl zwischen dem Ende einer Lebensweise und dem Anfang einer neuen, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Der Zerfall der Dinge zum Ende der DDR will nicht so recht zu den offenen, selbstbewussten Gesichtern der Menschen passen und die großspurigen Werbebotschaften, die in den 90er Jahren an lächerliche Schuppen gepinnt wurden, nicht zu den eigentlichen Befindlichkeiten eines Landes im Umbruch. Auch, wenn im Vorwort zu den Fotos und übrigens auch einigen lesenswerten Geschichten des Fotografen der Buchtitel »Leben in der Utopie« nur für die Zeit der DDR herangezogen wird, dürfte er für die Jahre danach ebenfalls passen. Viele Vorstellungen von der neuen Zeit blieben Wunschträume. Bis heute. Auch diese Erkenntnis implizieren die

Fotos, besonders die auf den letzten Seiten. Unter den vielen jüngst erschienen Alltagsbilderbüchern ist ist dieser Band einer der empfehlenswerten.

Siegfried Wittenburg: Leben in der Utopie. Fotografien 1980 - 1996. Mitteldeutscher Verlag. 143 S., geb.,19,95 €.

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