Roter Aufstand in Indien
Der schwedische Schriftsteller Jan Myrdal über seinen Besuch bei den Naxaliten
Myrdal: Ich bin Kommunist. 1943 trat ich dem schwedischen Jugendverband, 1948 der Partei bei. Bei uns war die Partei während des Krieges nicht verboten, nur halbverboten. Ich bin kein Renegat, aber 1965 war ich der Meinung, dass die Partei auf einem falschen Weg war und zwar in zwei wichtigen Fragen: Die Dritte-Welt-Frage und die Entwicklungen in der Sowjetunion und Zentralasien. Ich hatte damals eine lange Korrespondenz mit meinem Freund und Parteivorsitzenden Carl Henrik Hermansson, und wir waren uns beinahe einig. Aber bei der schwedischen Parteikonferenz im selben Jahr hat er mich als parteilos bezeichnet. Seitdem bin ich parteiloser Kommunist. Ich bin kein Naxalit, aber ich habe großes Verständnis.
Sie wurden von der CPI, der Kommunistischen Partei Indiens (Maoisten) eingeladen, über die Naxaliten zu schreiben?
1980 war ich mit meiner Familie bereits in Andhra Pradesh. Dort sind wir in den Untergrund gegangen, und darüber habe ich schon damals geschrieben.
Das Buch »Indien bricht auf« wurde auch in Indien in mehreren Sprachen aufgelegt. So bekam ich ein Telefonat, in dem man mir sagte, dass die Leitung der CPI und die Guerilla-Führung mich für zwei Wochen im Dschungel sehen wollen. Also bin ich, die Partei hat das alles gut organisiert, wieder in den Untergrund gefahren. Ich bin zwar schon 85 Jahre und habe schlechte Knie, doch wir sind durch den Dschungel gewandert. Dort herrscht ein Bürgerkrieg.
Worüber haben Sie mit den Aufständischen gesprochen?
Wir kamen nachts in das Lager, aus dem Dschungel kam eine Gruppe von Menschen, und dann diskutierten wir mit dem Generalsekretär über Fragen der linken Bewegungen in den imperialistischen Ländern, über die Arbeiterklasse und über die jetzigen imperialistischen Kriege. Wir haben darüber gesprochen, wie man die Gesellschaft anders organisieren kann und ob es eine Industrialisierung von unten geben kann. Sie haben Mao Zedong gelesen, und ich war während der Kulturrevolution häufig in China. Also haben wir uns über China unterhalten.
Wo stehen die Naxaliten im Kampf um ihre Rechte?
Das Volk, die Naxaliten, kämpfen bereits seit 1967. Wir sind jetzt in einer Situation in der es vielleicht 300 Jahre Krieg und Unterdrückung geben wird. Zumindest hat es in Europa 300 Jahre gedauert, den Feudalismus halbwegs zu unterdrücken. Die Naxaliten wissen, dass sie diesen Kampf in den nächsten 30 Jahren nicht gewinnen können. Sie sprechen über einen lang andauernden bewaffneten Kampf.
Warum sind die Menschen bereit, einen solchen Kampf auf sich zu nehmen?
Der Grund dafür sind die ungeheuren Klassenunterschiede in Indien. Die Adivasi und Dalit stehen am untersten Ende der Gesellschaft. Ihre angestammten Gebiete sind reich an Rohstoffen, es geht zum Beispiel um Eisenerz. Die Menschen, die dort wohnen, die Adivasi und Dalit, kämpfen um ihr Leben. Sie wollen dort nicht weg, also werden sie vertrieben. Die Regierung behauptet, die Naxaliten seien entwicklungsfeindlich, doch natürlich stellt sich hier die Frage, ob es nicht andere Möglichkeiten der Entwicklung gibt.
Wie sieht die Operation »Green Hunt« der Regierung gegen die Naxaliten aus?
In sogenannten Encounters töten Paramilitärs gezielt politische Opponenten. Ihre Leichen werden einfach in den Dschungel geworfen. Das höchste Gericht hat gesagt, dabei handele es sich um Mord. Trotzdem wird weiterhin gemordet und sexuell unterdrückt. Im Falle des ermordeten Cherukuri Rajkumar alias Azad forderte das Gericht eine Erklärung von der Polizei, doch es wurde keine Erklärung abgegeben, da es sich dabei um eine Frage der nationalen Sicherheit handele.
Gleichzeitig muss man sich fragen, warum andererseits eine Schriftstellerin wie Arundhati Roy nicht verhaftet wird. Und warum darf ich wieder ins Land einreisen? In gewisser Weise hat der bewaffnete Kampf den liberalen Kräften neue Möglichkeiten gegeben.
Die Naxaliten sind mit einer Polizei und Paramilitärs konfrontiert, die mit sehr modernen Methoden arbeiten. Trägt einer von ihnen beispielsweise ein Handy mit sich, laufen alle Gefahr, entdeckt zu werden. Dann kommen am nächsten Tag vielleicht Drohnen.
Was ist denn das Besondere an den Naxaliten verglichen mit anderen linken Strömungen?
Die Naxaliten sind Maoisten. Das besondere an ihnen ist, dass sie an der Basis arbeiten. Viele Kommunisten betrachten die Dinge aus der Sicht von oben. Wahrscheinlich sind alle Kommunisten gegen die Organisation nach Kasten, aber die Naxaliten haben verstanden, dass das Kastenwesen tief im Menschen verwurzelt ist. Wenn sie Europäer wären, dann würden orthodoxe Kommunisten vielleicht sagen, sie sind Psychoanalytiker. Sie haben erkannt, dass man wirklich mit sich selbst kämpfen muss, um die Vorstellung der Kasten und die damit verbundenen Gefühle der Unterlegenheit und Überlegenheit zu überwinden. Die Naxaliten kämpfen darum, ihr Selbstwertgefühl wiederzugewinnen.
Sie orientieren sich an den Maoisten, haben aber auch eigene Ideen entwickelt. Sie sind davon überzeugt, dass eine Industrialisierung nicht durch eine Art »Zentralkomitee« von oben durchgesetzt werden kann, sondern, dass es von unten geschehen muss. In den 60er Jahren gab es den Gedanken, dass man den Klassenfeind individuell vernichten muss. Das war damals nicht sonderbar, in Russland gab es diese Idee vor beinahe zweihundert Jahren auch. Aber es war falsch, und man hat das selbstbewusst geändert.
Was sind das für Menschen, die sich entscheiden, in den Widerstand zu gehen?
Das ist sehr unterschiedlich. Viele von ihnen sind wirklich unterdrückt, 40 Prozent der Revolutionäre sind Frauen, und ein Teil rekrutiert sich aus Intellektuellen. Doch die Adivasi und Dalit machen in Indien höchstens 20 Prozent aus. Deswegen kämpfen die Naxaliten darum, die Front zu verbreitern. Sie wollen städtische Arbeiter, die Mittelschicht und Intellektuelle für sich gewinnen.
Könnte es zwischen den Naxaliten und der indischen Regierung Kompromisse geben?
Die indische Regierung ist eine Regierung der herrschenden Klasse. Ich habe – in einem Interview mit PCI-Generalsekretär Ganapathy – nach einem Waffenstillstand gefragt, weil er für das Volk wichtig wäre. Diese furchtbaren Einsätze der Regierung müssten eingestellt werden. Doch ich erhielt die Antwort, dass sich die Naxaliten bereits an das Innenministerium gewandt hätten, dort aber keine Diskussion erwünscht ist. Ein Kompromiss könnte darin bestehen, dass die Naxaliten als eine politische Partei arbeiten dürfen, dafür müsste ihr Organisationsverbot aufgehoben werden. Die Dinge sind eigentlich nicht unlösbar, aber keine herrschende Klasse will ihre Macht bis jetzt freiwillig aufgeben. Die indische Regierung begeht einen riesigen Landraub. Ihr geht es um Verträge mit ausländischen Konzernen. Wenn allerdings Bürgerkrieg herrscht, fühlen sich die großen Aktionäre gestört.
Wie sind die Naxaliten mit Ihnen umgegangen?
Sehen Sie, in Schweden ist es nicht so schön, alt zu werden, ich bin jetzt über achtzig. In China, Indien oder Mexiko kann man als alter Mensch gut leben, Europa ist nicht für ältere Menschen gemacht – ich schreibe gerade etwas darüber. Sie waren sehr nett und haben mich wie einen Großvater behandelt.
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Die Naxaliten entstanden in den späten 60er Jahren und sind nach dem Ort Naxalbari im Distrikt Darjiling im indischen Unionsstaat Westbengalen benannt, wo 1967 ein Bauernaufstand von der Polizei niedergeschlagen wurde. Hauptursachen für diesen und andere im selben Zeitraum ablaufende Bauernaufstände (am bedeutendsten war die Erhebung in Srikakulam, Andhra Pradesh) waren die Konzentration des Landes in den Händen weniger Großgrundbesitzer, die im Wesentlichen aus der britischen Kolonialzeit herrührte, sowie die gesellschaftliche und ökonomische Diskriminierung der Adivasis durch die hinduistisch geprägte Gesellschaft. Andhra Pradesh ist heute das Haupt-Aktivitätsgebiet der Naxaliten. Der indische Geheimdienst spricht von 50 000 Mitgliedern und 20 000 Kämpfern.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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