Nichts als die Wahrheit
Die »Prawda« feierte ihre Gründung vor 100 Jahren
Zypern? Ist da. Ukraine? Ebenso. Finnland? Keine Antwort. Indien? Meldet sich. Chile? Si. Moldawien? Da. Großbritannien? Yes. Deutschland? Ja. Transnistrien? Mit dabei. Portugal? Stille. Brasilien? Nichts. Rund 25 Journalistinnen und Journalisten aus beinahe ebenso vielen Ländern zur gleichen Zeit in einem Bus zu versammeln, ist kein leichtes Unterfangen. Tatjana Desjatowa von der Abteilung Internationales der russischen Kommunistischen Partei wird etwas nervös und telefoniert. Eigentlich sollte es schon vor einer Viertelstunde losgehen an diesem Samstagmorgen. Die Zeit ist knapp, das Verkehrschaos in Moskau groß.
Finnland klettert schließlich in den Bus, der setzt sich ohne Portugal und Brasilien in Bewegung. Moskau ist geschmückt für die Feierlichkeiten zum 9. Mai. Entlang der großen Straßen und auf den Plätzen flattern gelbe, orangefarbene und rote Fahnen, viele Menschen in der Stadt tragen Schleifen an ihrer Kleidung. Eine riesige Tafel mit stilisierten Flammen gen Westen beim Auferstehungstor zeigt die Bewegung der Roten Armee bis zum siegreichen Ende des Großen Vaterländischen Krieges. Der Rote Platz abgesperrt.
Das bedeutet für die Gruppe einen erheblich längeren Fußmarsch. Rasend geht es quer durch die prunkvollen Arkaden des Kaufhauses GUM auf die andere Seite des Roten Platzes, zum Denkmal für Georgi Shukow, Marschall der Roten Armee. Dort wartet bereits Gennadi Sjuganow, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, inmitten einer Traube von Menschen. Ältere Herren prägen das Bild, manche von ihnen in Uniform. Ein paar Frauen mit Tüchern um den Kopf schwenken rote Fahnen, Gruppen von Jugendlichen tragen rote Windjacken mit dem Parteiemblem. Rote Nelken werden an alle verteilt. Drei Minuten später liegen die Blumen zu Füßen Shukows, und es geht flott weiter zum Grabmal des Unbekannten Soldaten. Wieder rote Nelken - und diesmal auch eine klare Choreografie: in Viererreihen aufstellen, Blumen ablegen, verbeugen, abtreten. Die zehn Sekunden Weg zum ewigen Feuer lassen keine Gelegenheit zur Besinnung. Auch danach bleibt keine Zeit: Es heißt aufstellen zum Gruppenfoto mit Sjuganow und ab zum Bus.
Zu Hause in der »Prawda«-Straße
Die »Prawda« residiert in der gleichnamigen Straße. Tatjana erklärt, dies sei bemerkenswert, da die russische Regierung möglichst alle Erinnerungen an die Sowjetunion aus dem Stadtbild tilge. Ungefähr doppelt so groß wie das nd-Gebäude ist der »Prawda«-Komplex, doch der größte Teil davon ist gänzlich ausgestorben. Ein Brand vor einigen Jahren hat ihn unbrauchbar gemacht. Die 14 verbliebenen der ehemals 500 Redakteure und Mitarbeiter des Blattes, das noch dreimal wöchentlich in einer Auflage von 100 000 Exemplaren erscheint, sind in wenigen Räumen des Seitenflügels untergebracht.
»Wir sind in einer schwierigen Lage«, gibt Chefredakteur Boris Komotzki zu. Doch die Anwesenheit der Kollegen und Genossen aus aller Welt, die Grußbotschaften, Glückwünsche und das Medieninteresse zum Jubiläum haben ihn optimistisch gestimmt. Ein älterer Kollege erzählt von der Erstürmung des Gebäudes und den wiederholten Unterbrechungen der Zeitungsproduktion Anfang der 90er Jahre. Seine Faust ballt sich, als er einen der damaligen Angreifer erwähnt, der inzwischen eine Menschenrechtsorganisation repräsentiere. Heute sei die »Prawda« sogar gezwungen, für die Räume in dem Gebäude aus Parteibesitz eine horrende Miete zu zahlen.
Juri Jemeljanow, Verfasser von Biografien über Chruschtschow, Trotzki und Stalin, versteht sich als Korrektiv der aktuellen Geschichtsschreibung. Er erklärt die »Prawda« zur wahrhaftigen und einzigen Stimme der Wahrheit, welche die »brutalen Lügen« über die »Tragödie unseres Landes« aufdecke. So werde die Sowjetunion mit dem deutschen Faschismus in einem Atemzug genannt. »Sie reden über den Molotow-Ribbentrop-Pakt, als sei das gestern gewesen«, empört er sich. Tatsächlich sei Stalin ein reiner antifaschistischer Kämpfer gewesen, der später der feindlichen Propaganda zum Opfer fiel.
Da wundert es nicht, dass Poster und kleine Büsten von Stalin neben denen von Lenin und Marx in den Räumen der »Prawda« zu finden sind. Das Archiv ist ein halbes Museum, der Redaktionsraum erinnert in Beengtheit und Mobiliar an ein gründlich aufgeräumtes AStA-Büro in den 80ern. Zum dritten Mal an diesem Tag sind Nelken niederzulegen: vor einer Gedenktafel für die im Krieg gestorbenen »Prawda«-Berichterstatter. Der Abschied nach Tee und einer unglaublich fetten, reich verzierten Sahnetorte mit dem »Prawda«-Schriftzug, die die Bank zum Jubiläum geschickt hat, ist sehr herzlich. Chefredakteur Komotzki erzählt, dass er in Potsdam geboren wurde.
Geburtstagsgrüße von Medwedjew
Der eigentliche Festakt findet in der prunkvollen Säulenhalle gleich neben dem Sitz der Staatsduma statt. Ersten Ansprachen - über Lenin, die »Prawda«, die Revolution, den Krieg, den Sieg, den Umbruch, die Wirtschaftskrise und die sozialistische Zukunft - folgt ein kurzer Film über die »Geburt der ›Prawda‹ aus den Leiden der arbeitenden Bevölkerung« und die guten Zeiten des Blattes, als täglich 15 Millionen Exemplare gedruckt wurden. Weitere Ansprachen und Grußbotschaften, deren Inhalt den ersten ähnelt, wechseln sich ab mit Musik. Als berichtet wird, dass sogar der alte und neue Ministerpräsident Dmitri Medwedjew einen Gruß geschickt hat, geht ein Raunen durch den Saal. Einige Personen, die sich um die »Prawda« verdient gemacht haben, bekommen von Sjuganow Jubiläumsmedaillen überreicht. »Wir haben das Parteigold gefunden, nach dem die anderen immer noch suchen«, sagt der KP-Vorsitzende, und es ist einer der wenigen Scherze bei dem Ereignis. Von der »Internationale« über optimistisch klingende Volkslieder bis zu revueartigen Stücken mit schrillen Tanzeinlagen reichen die musikalischen Darbietungen. Mit der Zeit fängt auch der etwas steif wirkende uniformierte Chor an zu schunkeln und andere lustige Bewegungen zu machen, die an eine riesige schüchterne Boygroup erinnern. Das Publikum ist begeistert.
Beim anschließenden Empfang für die Ehrengäste lernt man, immer einen kleinen Rest im Glas zu lassen, um für den nächsten plötzlich erhobenen Trinkspruch gerüstet zu sein. Im Bus auf der Rückfahrt nötigt Tatjana die erschöpften Journalisten zu singen. Noch einmal schmettern alle die »Internationale«, einige geben Arbeiterlieder in ihren Sprachen zum Besten. Den deutschen Beitrag übernimmt freundlicherweise der Kollege von der DKP-Zeitung »Unsere Zeit«.
Am Sonntag demonstrieren in der Innenstadt Zehntausende gegen Putin, doch das erfährt man im etwas außerhalb gelegenen Hotel nur zufällig und verspätet. Die »Diskussion am Runden Tisch« beginnt mit einer dreiviertelstündigen Rede von KP-Präsident Sjuganow: Lenin, »Prawda«, Revolution, Krieg, Sieg, Umbruch, Wirtschaftskrise, sozialistische Zukunft. »Die aktuelle Politik wird nicht in der Lage sein, die ökonomischen und sozialen Probleme zu lösen«, sagt er. Weitere Ansprachen folgen. Der Chefredakteur von »Kommunist Belarus« findet freundliche Worte über Präsident Alexander Lukaschenko, bezweifelt jedoch, dass die Sowjetunion wiederhergestellt werden könne. Eine Tatsache, die den Vorsitzenden der Sozialistischen Partei Lettlands nicht daran hindert, deren Verdienste ein weiteres Mal aufzuzählen.
Die Kollegen aus Chile knipsen eine Blondine, die auf schwindelerregenden Pfennigabsätzen durch den Saal schreitet und aussieht wie künstlich hergestellt. Dann bekommen auch alle ausländischen Journalisten von Sjuganow persönlich eine »Prawda«-Medaille aus Parteigold überreicht, mit Küsschen auf die Wange für die Damen.
»Der Kalte Krieg ist nicht zu Ende«
Nach der Pause ist die Runde kleiner. Eine nach dem anderen referiert zum Thema »Die Parteipresse und der Kampf der Kommunisten in der aktuellen Situation«. Nicht wenige Kollegen nehmen dies zum Anlass, ihrerseits zunächst ausschweifend die Verdienste von Lenin, der »Prawda« und der Sowjetunion aufzuzählen. Andere sind schneller bei der Sache. »Niemand kann von vergangenem Ruhm leben«, sagt John Haylett vom britischen »Morning Star« und berichtet, dass Privatisierung und Monopolisierung den Vertrieb kleiner Zeitungen in seinem Land erheblich erschwert hätten. Gegen die »Informationsblockade« ihrer Regierung kämpfen die ungarischen Kommunisten. »Halb klandestin« gehe die Arbeit der »A Szabadság« vonstatten. Chefredakteur Gyula Thürmer und seine Kollegen verdingen sich zusätzlich bei anderen Zeitungen.
Der litauische Vertreter sagt, »Der Kalte Krieg ist nicht zu Ende«, und berichtet von Repressalien gegen Kommunisten. Über die Weltherrschaft der USA lamentiert der Vertreter der KP Zyperns. Er sieht seine Partei als »propagandistischen Organisator« mit dem Ziel, ihre Botschaften in jede Fabrik zu bringen. Dabei könnten auch Themen wie Autos, das Fernsehprogramm und beigelegte CDs helfen. Die gestreng wirkende Kollegin aus Transnistrien, die aufrecht wie ein Zinnsoldat mit schriller Stimme vorträgt, verzieht das Gesicht, als sie von »Unterhaltung« spricht, die andere in ihrer Parteizeitung sehen wollen. Während sie von der neuen roten Schmuckfarbe ihrer »Prawda« schwärmt, erklärt die Vertreterin von »Mundo obrero« aus Madrid das Internet als Quelle und Ziel ihrer Arbeit zugleich. Die einen wollen ihren Lesern Argumente an die Hand geben, die anderen sie »erziehen«, die einen wollen vor allem junge Leute für sich gewinnen, die anderen »Patrioten«. Weitgehende Einigkeit herrscht darüber, dass es immer die anderen Medien sind, die lügen und die Massen manipulieren.
Alles schwirrt im Kopf, die Masse an Stoff ist erschlagend, die Luft schlecht. Zwei Dutzend Vorträge haben die eingeplante Zeit vollständig ausgefüllt. Die »Diskussion« endet ohne Gelegenheit für Nachfragen, Kritik, Meinungsaustausch. 25 Zeitungen, Länder, Situationen bleiben unvermittelt nebeneinander stehen - zumindest im offiziellen Programm.
Nach dem abendlichen Empfang im Hotel mit Musik, Tanz und Wodka versammeln sich Reste der internationalen Delegation in dem Zimmer, das während des Wochenendes als Organisationsbüro dient. Vorbei sind die Ansprachen, endlich wird geredet. Ganz Lateinamerika befinde sich in einem revolutionären Prozess, versucht der brasilianische Kollege zu überzeugen. Tatjana freut sich, dass sie nicht mehr ins Englische übersetzen muss, weil sie die Sprache der USA eigentlich nicht so gern mag. Der chilenische Vertreter, der die Übersetzung vom Russischen ins Spanische übernommen hat, antwortet auf die Frage, ob er als Journalist in Moskau tätig sei: »Nein, als Kommunist.« Und lacht.
Noch einmal werden die Gläser gehoben auf Lenin, Marx, die »Prawda«, die Zukunft, die Freundschaft, die internationale Solidarität, die rote Fahne, Sozialismus und Kommunismus. Ob es viele Frauen wie Tatjana gebe, möchte Anabela Goncalves von der »Avante« wissen. Diese verneint; die KP sei klein, die meisten russischen Frauen seien eher unpolitisch. »Also habt ihr etwas falsch gemacht?«, hakt die Portugiesin nach. Das zweite »Nein« ist entschiedener. Schuld sei der gewaltige Bruch vor 20 Jahren.
Im Übrigen wird ausdiskutiert, ob »Portugal« und »Brasilien« am Samstag im richtigen Hotelfoyer gewartet hatten oder im identisch aussehenden nebenan. Dieser Morgen scheint ewig her zu sein.
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