Die UNO-Mission ist unsere große Chance
nd-Gespräch mit dem oppositionellen syrischen Publizisten Michel Kilo
nd: Mehr als 100 Menschen wurden am vergangenen Wochenende in dem Ort Hula (Provinz Homs) ermordet, mehr als 300 Menschen wurden verletzt. Es mehren sich die Stimmen, die sagen, der Sechs-Punkte-Plan von UN-Sondervermittler Kofi Annan sei »tot«.
M. Kilo: Nein, der Plan ist nicht »tot«, er muss erweitert werden.
Kritiker sagen, die syrische Regierung nutze den Plan und spiele »auf Zeit«. Befürworter bezeichnen den Plan als »letzte Chance« für Syrien.
Dieser Plan wurde von uns in Syrien entworfen. Ich selber habe daran mitgearbeitet. Als die Arabische Liga diesen Plan übernommen hatte, war es unser Plan. Und jetzt, wo man ihn den Annan-Plan nennt, ist es immer noch unser Plan. Wir sollten sehr behutsam damit umgehen, denn er ist im Interesse der syrischen Bevölkerung und der Befreiungsbewegung. Was geschieht, wenn der Plan scheitert und wir keine politische Lösung finden? Dann gibt es eine militärische Intervention oder einen Bürgerkrieg. Die Alternative zum Plan von Kofi Annan wäre eine Katastrophe für Syrien.
Kritische Stimmen meinen, die Mission sei gescheitert, weil sie die Gewalt nicht verhindert.
Es gibt zwei Seiten, die die Initiative von Kofi Annan nicht wollen. Das Regime und einige Formationen der Opposition, die alles tun, um das Regime gewaltsam zu stürzen. Die Muslimbrüder haben Kofi Annan schon vor dem Massaker in Hula aufgefordert, das Scheitern seiner Mission zu erklären.
Sie dagegen fordern eine Ausweitung der Mission. Wie könnte das aussehen?
Die Zahl der Beobachter sollte auf 1000 bis 3000 erhöht werden. Sie müssten nicht nur in den großen Städten stationiert sein, sondern auch in den Kleinstädten und Dörfern. Der Beschluss des UN-Sicherheitsrates müsste genau festlegen, was geschieht, falls die syrische Regierung die Mission verhindert.
Die Kompetenzen der UN-Beobachter müssen erweitert werden. Sie müssten in den Gefängnissen, in Krankenhäusern und überall dort präsent sein, wo die Geheimdienste agieren. Verhaftungen müssten ganz verboten werden. Und die Amerikaner und Russen müssten klar sagen, was sie zu tun gedenken, falls die Mission scheitert.
Herr Kilo, Sie haben eine neue Gruppe gegründet, die Demokratische Plattform …
Es gibt sehr viele Menschen, die an der Gründung beteiligt waren. Ich bin Mitbegründer der Syrischen Demokratischen Plattform.
Was ist das Ziel dieser Gruppe?
Unser Ziel ist, die syrische Opposition aus diesem Engpass herauszuholen; den Menschen in Syrien zu helfen, ihren Weg besser zu finden; die politischen Fehler der Opposition zu korrigieren; einen politischen Plan für die Volksbewegung zu entwickeln und Syrien zu einem ausgeglichenen, demokratischen System zu führen. Wir wollen weder Chaos noch eine radikale, vielleicht islamische Regierung.
Welche Fehler macht die Opposition?
Ihre Uneinigkeit ist ein großer Fehler. Die Opposition beurteilt die Lage in Syrien nicht durch den Widerspruch zum Regime, sondern durch ihren Widerspruch über das Regime, das nach Assad kommen wird.
Wenn wir die Opposition hier in Deutschland ansehen, ist diese ja auch alles andere als einig. Warum ist es so wichtig, dass die syrische Opposition sich einigt?
Ich meine nicht, dass sie sich einigen muss. Ich meine, dass ihre Widersprüche untereinander nicht zum Hauptwiderspruch werden dürfen. Jetzt haben wir innerhalb der Opposition Formationen die sagen, die andere Formation der Opposition ist unser Feind. Aber wir haben einen Hauptfeind, das ist das Regime. Und wenn das Regime weg ist, dann können wir unsere Streitigkeiten regeln.
Nun sagen einige, die Opposition solle sich von denjenigen in ihren Reihen distanzieren, die derzeit mit Gewalt die Tagesordnung in Syrien mitbestimmen. Sehen Sie das auch so?
Nein. Es gibt einige Elemente in der Opposition, die gewaltsam vorgehen. Aber die ganze Opposition ist immer friedlich gewesen, bis heute. Wenn eine oppositionelle Formation gewaltsam vorgeht, wenn sie interkonfessionelle Konflikte schürt, keine patriotischen, demokratischen Maßstäbe ansetzt, wenn sie Menschen angreift, friedliche Menschen stört, entführt usw. - das verurteile ich.
In unseren Medien wird die syrische Opposition meist gleichgesetzt mit dem Syrischen Nationalrat. Wie ist das Verhältnis der Demokratischen Plattform zum Syrischen Nationalrat?
Wir schätzen den repräsentativen Wert des Rates sehr, und wir sind gegen seine Politik.
Das ist aber eine schwierige Position.
Das ist gar nicht schwierig. Wir akzeptieren die Politik des Rates nicht, weil sie sehr viel zur Uneinigkeit der Opposition beiträgt. Aber wir akzeptieren seinen repräsentativen Charakter.
Sie meinen damit den Zugang zu Regierungen, zu Medien?
Nein, ich meine das, was die einfachen Syrer, die in der Opposition aktiv sind, in ihm sehen. Sie sehen den Rat quasi als Gegenregierung an, und in dieser Hinsicht unterstützen wir ihn. Aber seine Politik erfüllt nicht die Hoffnungen der syrischen Bevölkerung.
Der Syrische Nationalrat will ja das Dach der syrischen Opposition sein, wird die Demokratische Plattform Mitglied werden?
Diese Herren sagen uns: Schicken Sie 20 Mitglieder der Demokratischen Plattform, und damit sind sie Mitglied im Nationalrat. Wir möchten, dass man über die Mitgliedschaft, über die Programme diskutiert. Wir möchten zu einer Verständigung dahingehend kommen, dass wir als unabhängige Organisation anerkannt werden und mit dem Rat zusammenarbeiten.
Im Moment hat der Syrische Nationalrat offensichtlich jede Menge interne Probleme. Wäre das nicht der Zeitpunkt, dort einzutreten, um die neue Politik mitzubestimmen?
Nein. Das ist eine Gelegenheit für den Rat, zu diskutieren und sich zu restrukturieren und zu einer neuen Form der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen der Opposition zu kommen, anstatt zu sagen: Wir haben hier eine Organisation, die alle umfassen kann, kommen Sie, und treten sie ein.
Sie sehen also ihre persönliche Zukunft auch nicht als Präsident des Nationalrats. Der Posten ist ja nun vakant geworden.
Ich liebe Präsidenten nicht und möchte nie in meinem Leben Präsident werden.
Chronologie
Resolutionen und Erklärungen von Sicherheitsrat und Vollversammlung der Vereinten Nationen konnten das Blutvergießen in Syrien bisher nicht stoppen.
3. August 2011: Nach Monaten der Gewalt einigt sich der Sicherheitsrat auf eine Verurteilung des Regimes in Damaskus. Doch hat das Papier nur den Status einer Präsidentiellen Erklärung.
23. August: Der UN-Menschenrechtsrat verurteilt die Gewalt und fordert die ungehinderte Einreise für unabhängige Experten.
4. Oktober: Eine von den EU-Ländern vorgeschlagene Resolution des Sicherheitsrates scheitert am Veto Russlands und Chinas.
22. November: Das Menschenrechtskomitee der Vollversammlung verurteilt Syrien, am 2. Dezember folgt der UN-Menschenrechtsrat.
19. Dezember: Die Vollversammlung weist Syrien wegen der Gewalt gegen Demonstranten mit überwältigender Mehrheit zurecht - ohne weitere Konsequenzen.
4. Februar 2012: Erneut blockieren Russland und China eine Resolution gegen Syrien. Der von Arabern und Europäern unterstützte Entwurf hatte die syrische Regierung aufgefordert, »sofort alle Menschenrechtsverletzungen und Angriffe (...) zu beenden«.
16. Februar: Die Vollversammlung verurteilt die Gewalt. Die Erklärung hat aber nur rein appellativen Charakter und ist nicht an Sanktionen geknüpft.
21. April: Der UN-Sicherheitsrat erteilt einer 300 Mann starken Beobachtertruppe zur Überwachung der Waffenruhe in Syrien das Mandat. Die Beobachter sollen auf die Durchsetzung des Friedensplans von Sondervermittler Kofi Annan pochen. In dem von Russland eingebrachten Entwurf wird die unbewaffnete United Nations Supervision Mission einem militärischen Beobachter unterstellt.
27. Mai: Der Sicherheitsrat verurteilt ein Massaker an Zivilisten in der Stadt Hula scharf und macht die Regierung von Präsident Baschar al-Assad dafür verantwortlich. dpa
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