- Reise
- 10. nd-Lesergeschichten-Wettbewerb
Monsieur Heine statt Disneyland
Eckhard Jahn aus Magdeburg (3. Platz)
Jugendweihereisen waren zur Tradition geworden. Nachdem wir im Wendejahr 1989 einigen Städten der damaligen Sowjetunion mit unserer großen Tochter einen unvergesslichen Besuch abstatteten, ging’s diesmal auf Wunsch unserer mittelsten Tochter Dorit, als Jugendweihling, im Mai 1993 per Busreise nach Paris.
Unsere erste größere Reise in ein westeuropäisches Land. Spannend, was in dieser Riesenstadt so alles zu erleben sei und war. Die übliche Stadtrundfahrt, Seine-Bootsfahrt, Aufstieg zum Eiffelturm, Place de la Concorde und der Zukunftsstadtteil Defense gehörten ebenso dazu wie Disneyland am Rande von Paris. Dahin wollte ich aber nicht.
Ich hatte etwas vom historisch-reizvollen Friedhof Montmartre gehört und gelesen und als Heinrich-Heine-Verehrer wollte ich zu seinem Grab. Ein wenig französische Sprachkenntnisse halfen mir, die Orientierungstafeln zu verstehen, und schon war ich am Grab. Ich dachte natürlich an die Unvergesslichkeit dieses Ereignisses. Ich dachte an meinen Vater, welcher gern Heine zu Hause rezitierte - und selbst - viel zu früh, 1989 verstarb. Ich dachte an die Bescheidenheit seines Grabs im Vergleich zu anderen sogenannten Persönlichkeiten, welche an diesem Ort ihre Grabstätten haben. Aber was fiel mir da beim näheren Hinschauen auf Heines Grabstein auf? Da lag ein laminiertes A-4-Blatt. So, dass es jeder, der hier verweilte, lesen sollte.
Ich nahm diese Einladung gern an und las Erstaunliches. Eine deutsche Schülerin (16 Jahre) nahm Bezug auf Heines Gedicht »Deutschland ein Wintermärchen«. Es las sich wie eine Hommage an die Menschen, doch nun endlich dem Größenwahn Deutschlands, der sich aktuell mit der Wiedervereinigung und den rechtsradikalen Gewalttaten u. a. in Rostock äußerte, weltweit Einhalt zu gebieten und die schönen Seiten Deutschlands stärker zu betrachten. Ich wünschte mir diese Schülerin hierher. Ich hätte sie bestimmt umarmt und für diesen Mut und feinfühlige Erörterung Heines Gedichts sehr gelobt. Aber ich hatte nur ihre geschriebenen Gedanken in der Hand. Ja, dachte ich, du bist Deutscher in einem durch Deutschland überfallenem Land. Macht da DDR-Deutscher einen Unterschied?
Sie schrieb, niemals sollten die Menschen die deutschen Gräueltaten an anderen Nationen vergessen. So in meinen Gedanken versunken trat ein älteres Ehepaar auch an Heines Grab. Sie sprachen Englisch. Die gemeinsame Botschaft kam doch irgendwie zueinander. Die Ehrung und Achtung Heines als großen deutschen Dichter. Jedoch was mich sehr berührte und womit ich bis heute emotional sehr verbunden bin, ist der Augenblick, als dieses englische Paar mehr wissen wollte über den Inhalt des Briefes, und ich mangels englischer Sprachkenntnisse nur stammeln konnte »…dis iss very good, ich aus German, GDR, auch sehr friedliebend.«
Da wollte ich doch grade große internationale Kommunikation betreiben, und die vielen Jahre Russisch halfen mir hier gar nicht! So musste ich dieses, für mich große emotionale Ereignis - ein DDR-Deutscher steht in Frankreich am Grab eines der größten, humanistischen deutschen Dichter und wird von einer deutschen Schülerin in seinen Auffassungen zu Frieden, Vaterlandsliebe, Religion, der humanen Größe Deutschlands so bestärkt, dass man dieses Gefühl anderen, ja sogar aus einem anderen Land, mitteilen möchte - allein verkraften und mir wurde ganz flau im Magen.
Heute noch bekomme ich bei dem Gedanken Gänsehaut. Und Heine habe ich gerade für diese Geschichte wieder aus meiner Bibliothek hervorgeholt. Und an meine Mittelste gedacht, die mit ihren drei Kindern meiner lieben Frau und mir viel Freude macht.
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