Handeln wir!

Europabeilage des »nd«

  • Francis Wurtz
  • Lesedauer: 6 Min.
Am 31. Mai konnte die Bevölkerung Irlands über den europäischen Fiskalpakt entscheiden. Während über 60 Prozent für den Pakt stimmten, hatten die Iren vor fast vier Jahren, am 12. Juni 2008, den Lissabon-Vertrag abgelehnt. Bürgermitsprache und -entscheidung in europäischen Fragen sind für die meisten EU-Staaten jedoch Fremdwörter. »nd« beschäftigt sich mit diesem Thema in seiner Europabeilage.
Francis Wurtz (64) zählt zu den profiliertesten Europapolitikern der internationalen Linken. Nach Funktionen in der Parteiführung gehörte der französische Kommunist seit der ersten Direktwahl 1979 dem Europäischen Parlament an. Seit 1999 führte er die Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL), im Jahr 2009 schied er aus dem Parlament aus.
Francis Wurtz (64) zählt zu den profiliertesten Europapolitikern der internationalen Linken. Nach Funktionen in der Parteiführung gehörte der französische Kommunist seit der ersten Direktwahl 1979 dem Europäischen Parlament an. Seit 1999 führte er die Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL), im Jahr 2009 schied er aus dem Parlament aus.

Ohne jeden Zweifel war seit Beginn der europäischen Integration die Vertrauenskrise zwischen den Bürgern und den Brüsseler Institutionen noch nie so tief wie heute. Einer der Gründe dieses Vertrauensverlustes ist das weitverbreitete Gefühl, keinerlei Kontrolle mehr über die wesentlichen Entscheidungen zu haben, niemals wirklich bei der Entwicklung der europäischen Richtlinien beteiligt zu werden und der Möglichkeit beraubt worden zu sein, durch Veränderungen in der Regierung die Politik so umzugestalten, dass sich auch die großen europäischen Entscheidungen ändern.

In der letzten Zeit ist das Misstrauen der europäischen Regierungskreise gegenüber allgemeinen Wahlen in eine neue Phase getreten. So hat das Gründungsland der Europäischen Gemeinschaft Italien mit Mario Monti, einem ehemaligen EU-Kommissar, einen Ministerpräsidenten, der sich nie den Wählern stellen musste. Nur dank des Vertrauens der Finanzmärkte in eine von den europäischen Institutionen unterstützte Persönlichkeit wurde er in dieses hohe Amt katapultiert. Man ist nie besser bedient als durch sich selbst! Natürlich hat man den Bürgern erklärt, dass es sich bei dem Vorgang um eine demokratische Ausnahme handele, die aber notwendig sei, um die Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen. Somit erhalten die Marktmächte Vorrang vor den Bürgerrechten.

Vor einiger Zeit warnte Jean-Claude Juncker, Präsident der Euro-Gruppe, vielsagend: »Wir wissen alle, was zu tun ist! - Was wir aber nicht wissen, ist, wie wir wiedergewählt werden sollen, wenn wir es einmal getan haben.« Die Nominierung Mario Montis war in gewisser Weise die erste Anwendung dieses »Junckerschen Lehrsatzes«: Nicht, dass er nicht nur nicht gewählt wurde, sondern er gab auch bekannt, dass er bei den nächsten Wahlen nicht kandidieren würde.

Sieg auf der ganzen Linie! So sieht also die Lösung aus, um eine von den Märkten gewollte - also unbedingt richtige - Politik anzuwenden, ohne sich von den - notwendigerweise egoistischen, die »Zwänge einer modernen und offenen Wirtschaft« ignorierenden - Wählern stören zu lassen. Mit Recht sprach Habermas vom Beginn der »post-demokratischen« Ära. Der Fiskalpakt - auch »Merkozy-Pakt« genannt - zeichnet das Bild dazu: Nach der Währungspolitik ist nun die Fiskalpolitik an der Reihe und dann die Wirtschaftspolitik, um auf diese Weise den Bürgern und ihren gewählten Vertretern zu entkommen - wenn dieser Vertrag erst einmal ratifiziert ist.

Wie lange glaubt man, dass die Bürger akzeptieren, so umgangen und ignoriert zu werden? Das Drama, das sich durch die Konfrontation zwischen der »Troika« und Griechenland entfaltet, läuft Gefahr, eine entscheidende Etappe im Prozess der Trennung zwischen den europäischen Staats- und Regierungschefs und den Bürgern der Mitgliedsländer zu werden. Was geschieht tatsächlich? Hier ist ein Volk, dem die Kommission, der Rat, die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfonds aufeinander folgende Sparpläne auferlegt haben, die von Experten sofort als »unhaltbar« qualifiziert wurden. Mit diesen Plänen wurde nicht nur eine ganze Gesellschaft destabilisiert, sondern auch die Wirtschaft in eine Rezession getrieben, die einer Kriegszeit entspricht. Diese »Schocktherapie« erweist sich als Fiasko. Die griechischen Bürger sind am Ende und finden, dass ihre Opfer nichts gebracht haben. Sie haben die griechischen politischen Führer bestraft, die diese katastrophale Politik unterstützten, und sie förderten die neuen Kräfte, die ein Ende dieser Spirale nach unten verlangen.

Ist das nicht normal? Muss das nicht respektiert werden? Was aber antworten bereits im Voraus die europäischen Institutionen? Wenn die zukünftige griechische Regierung nicht das »Memorandum« - die Sparpläne - respektiert, dürfe Griechenland nicht mehr zur Euro-Zone gehören und auch die Finanzierungshilfe müsse gestoppt werden. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte wird sich die EU von einem ihrer Mitglieder, das in einem finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Desaster steckt, trennen. Aus der Sicht von Millionen von Bürgern dürfte dies ein Todesstoß gegen die europäische Integration sein. Denn welche Bedeutung haben nach einem solchen Verrat noch die Begriffe »Union«, »Solidarität« oder »Werte«, wie sie in den Reden und Verträgen genutzt wurden?

Im Zusammenhang mit diesem beispiellosen Vorgang hat die Partei der Europäischen Linken eine weitreichende Entscheidung getroffen. Sie will, gemeinsam mit anderen Partnern - Gewerkschaftsführern, Vereinsaktivisten, Intellektuellen und Experten - einer Million europäischen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit geben, in dieser Schlüsselfrage zu intervenieren: Die Schaffung einer europäischen öffentlichen Bank zu fordern, deren einzige Aufgabe es ist, den Mitgliedsstaaten - und besonders jenen, die in großen Schwierigkeiten sind - zu einem gegen Null tendierenden Zinssatz Mittel zu leihen, die ausschließlich zur Finanzierung öffentlicher, sozialer und ökologischer Entwicklungsprojekte bestimmt sind. Diese öffentliche Bank finanziert sich selbst, nicht über die Finanzmärkte, sondern so wie alle Banken bei der Europäischen Zentralbank, wie es auch in den EU-Verträgen vorgesehen ist. Das würde in der Tat eine völlige Umkehrung der Logik darstellen, wie sie derzeit gegenüber der griechischen Katastrophe angewandt und bis zur Karikatur illustriert wird.

Ein solches Projekt würde zunächst einmal heißen, keine Sparpläne mehr durchzusetzen, um Darlehen zu erhalten, sondern vielmehr in soziale Entwicklung und Umweltschutz zu investieren. Dann würden die Länder nicht mehr der Herrschaft der Finanzmärkte unterworfen, sondern die Staaten von dieser erstickenden Dominanz befreit werden. Die Europäische Zentralbank leiht dieser besonderen öffentlichen Bank dann Gelder zu den gleichen Bedingungen, wie sie sie auch den kommerziellen Banken gewährt. Dann würde die Demokratie in der verschlossenen Finanzwelt wieder belebt. Es würden auch im Verwaltungsrat, der mit der Prüfung von Kreditanträgen beauftragt ist, Gewerkschaftsvertreter, Abgeordnete und von ihnen ausgesuchte Experten an der Seite der Arbeitgeber und Finanziers sitzen.

Wie erreichen wir es, dass eine Million Bürgerinnen und Bürger zugunsten eines solchen Projektes intervenieren können? Der Lissabon-Vertrag sieht eine Prozedur dafür vor, die »Europäische Bürgerinitiative«. Sie ermöglicht es, die EU-Kommission aufzufordern, sich eines bestimmten Themas anzunehmen, das in ihre Zuständigkeit fällt und mit den Verträgen vereinbar ist. Dafür müssen dann eine Million Europäerinnen und Europäer im Verlaufe eines Jahres ihre offizielle Zustimmung zu einem vorgelegten Vorschlag geben. Sie müssen aus wenigstens sieben Ländern der EU kommen und Wahlrecht besitzen. Am Ende dieser Unterschriftensammlung, wenn diese sorgfältig kontrolliert und bestätigt wurde, muss eine öffentliche Anhörung im Europäischen Parlament zum gewählten Thema stattfinden und schließlich muss die Kommission auf diese Anfrage mit einem Legislativvorschlag reagieren oder öffentlich ihre diesbezügliche Ablehnung motivieren.

Ich bin der Letzte, der glaubt, dass der Lissabon-Vertrag die Möglichkeit bietet, die Europäische Union tief greifend zu verändern. Aber eine solche breite Bürgerbeteiligung, von öffentlichen Debatten, Internetforen, Presseartikeln begleitet, ist in der Lage, Breschen zu schlagen, Netzwerke zu bilden, meinungsbildend zu wirken. Damit soll, kurz gesagt, der europäischen Idee wieder ein Hauch von Demokratie gegeben werden. Seit Marx weiß man, dass eine Idee zur materiellen Gewalt wird, wenn sie die Menschen erreicht. Das ist unser Ziel!

Unter Berücksichtigung der administrativen Fristen, die uns von der Europäischen Kommission und den Staaten auferlegt sind, und während der sich die europäische Krise noch weiter verschärfen kann, geben wir ab September 2012 all jenen, die eine seriöse Gelegenheit wahrnehmen wollen, die Möglichkeit, ihre Staatsbürgerrechte auf einem ihnen bisher verschlossenen Bereich auszuüben. Ist das ein ehrgeiziges Projekt? Gewiss! Aber Seneca sagte bereits, das höchste Gut sei, gemäß der Natur zu leben: »Die Natur hat uns zu beidem geschaffen, zur Betrachtung der Welt und zum Handeln.« Handeln wir also!

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

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