Weiterhin 70 000 Haushalte mit zu hohen Mieten
Neue Rechtsverordnung in Berlin zu den Kosten der Unterkunft für ALG-II-Empfänger
Mit Aufforderungen zur Mietkostensenkung wird Druck auf die ALG-II-Bezieher ausgeübt. Der überwiegende Teil der Haushalte wird übergangsweise die Mehrkosten gegenüber den Leistungen des Jobcenters durch Abzug vom Regelsatz aufbringen müssen, da preisgünstiger Wohnraum rar ist. »Die Sparpolitik des Berliner Senats wird auf dem Rücken der wirtschaftlich Schwächsten ausgetragen«, kritisiert der Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, Reiner Wild, die neue Rechtsverordnung. Die neue WAV lege zu niedrige Richtwerte für die Wohnkostenübernahme fest und sei insgesamt nicht rechtsicher.
Deshalb sah sich der Berliner Mieterverein (BMV) veranlasst, die Wirkungen der neuen Richtwerte einer Überprüfung zu unterziehen. Darüber hinaus hielt der BMV aufgrund der jahrelang verzögerten Anpassung der bisherigen Richtwerte eine Prüfung für notwendig, ob die durch die neue Rechtsverordnung festgelegten Leistungen auch den verfassungsrechtlich gebotenen individuellen existenznotwendigen Bedarf decken (Bundesverfassungsgericht vom 9. Februar 2010). Da der Senat keine Aussage dazu getroffen hat, in wie vielen Fällen er davon ausgeht, dass ALG-II-Haushalte im Verhältnis zu den neuen Richtwerten »nicht angemessene Mieten« zahlen, hat der BMV hierzu TOPOS mit einer Studie beauftragt.
Nach TOPOS-Studie: ein Viertel liegt über neuen Werten
Fast ein Viertel der jetzt gezahlten Mieten liegen über den neuen Richtwerten. Auf der Basis von 962 Daten aus den Bezirken Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg, Mitte, Neukölln und Pankow wurde die Wohn- und Mietsituation von ALG-II-Empfängern untersucht. Das Ergebnis:
● 35 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften lagen mit ihren Mieten bereits über den alten Richtwerten, die bis zum 30. April 2012 galten. Nach Angaben der Senatsverwaltung überschritten per 31. Dezember 2011 32,2 Prozent die alten Richtwerte. Die leichte Überschreitung führt TOPOS auf die in den Untersuchungsgebieten gegenüber der Gesamtstadt etwas erhöhten Mieten zurück. Bei der Untersuchung auf Basis der neuen Richtwerte wird deshalb mit einem Ausgleichsabschlag gearbeitet.
● 95 000 Bedarfsgemeinschaften liegen über den von der Senatsverwaltung benannten Mittelwerten, was 31 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften mit KdU-Bezug (Kosten der Unterkunft) ausmacht. Über den Höchstwerten liegen danach 25,8 Prozent (80 000 aller Bedarfsgemeinschaften). Unter Berücksichtigung von um 10 Prozent erhöhter Richtwerte bei besonderen Bedarfen gemäß § 6 WAV (lange Wohndauer, alleinerziehend, Schwangerschaft, besondere soziale Bezüge) zahlen noch 72 000 Bedarfsgemeinschaften (23,3 Prozent) höhere Mieten als die mittleren Richtwerte vorgeben. Zusätzlich gibt es weitere 9000 Bedarfsgemeinschaften, die mit ihrer Miete zwar unter der Gesamtangemessenheitsgrenze liegen, aber die Kappungsgrenze aus § 5 Abs. 2 WAV überschreiten und damit Quadratmetermieten zahlen, die mehr als 50 Prozent über den Richtwerten liegen - das sind etwa drei Prozent und 9000 aller Bedarfsgemeinschaften.
In den ausgewählten meist innerstädtischen Quartieren würden daher 26,3 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften Mieten zahlen, die über den Richtwerten liegen. Unter Berücksichtigung des genannten Ausgleichsabschlages ergibt sich für die Gesamtstadt, dass etwa 70 000 Bedarfsgemeinschaften Mieten zahlen, die auch nach dem 1. Mai 2012 über den Richtwerten liegen. Diese Haushalte werden demzufolge von den Jobcentern zur Senkung ihrer Wohnkosten aufgefordert werden und gegebenenfalls einen Teil ihres ALG-II-Regelsatzes für die Miete aufwenden müssen.
Berliner Mieterverein übt Kritik am Senatskonzept
Das von der zuständigen Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales dargelegte WAV-Konzept zur Bestimmung der Höhe der angemessene Aufwendungen für Unterkunft und Heizung ist hinsichtlich der Anforderungen aus der gesetzlichen Grundlage von § 22b Abs. 2 des SGB II nicht schlüssig, so der Berliner Mieterverein. Dies ergebe sich aus mehreren Gründen:
1. Als Datengrundlage wird zwar auf den Berliner Mietspiegel Bezug genommen, dies sei aber nicht ausreichend. Weder sind Miethöhen aus dem Sozialen Wohnungsbau für die Richtwerte eingeflossen, noch wird die gesetzlich erforderliche Verfügbarkeit von Wohnraum für notwendigen Wohnungswechsel hinreichend über den Berliner Mietspiegel abgebildet.
2. Die Wohnungsaufwendungsverordnung berücksichtigt nur die anhand des Wohnungsbestandes gewichteten Mittelwerte aus einfacher Wohnlage. Nach gesetzlichen Vorgaben ist ein einfacher Standard zugrunde zu legen. Einfacher Standard ist aber nicht gleichzusetzen mit einfacher Wohnlage. Nach Bewertung des Bundessozialgerichts soll die Unterkunft nach Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen entsprechen und keinen gehobenen Wohnstandard aufweisen.
Vielmehr bewohnen ALG-II- Empfänger auch Wohnraum in mittlerer und vereinzelt sicher auch in guter Wohnlage, wie Kontrollrechnungen des Mietervereins für die Wohnungsgrößenklassen unter 40 qm und von 40 bis unter 60 qm belegen:
Wohnungen unter 40 qm: Laut Bundesagentur für Arbeit bewohnten am 31. Dezember 2011 in Berlin 50 793 Bedarfsgemeinschaften Wohnungen unter 40 qm. Nach Schätzungen des Berliner Mietervereins kommen noch einmal bis zu 15 000 Haushalte von 31 000 Haushalten dazu, bei denen keine Angaben über die Wohnungsgröße vorlagen. In einfacher Wohnlage gibt es jedoch laut Wohnungsbestandstatistik nur 57 000 Wohnungen in Mietspiegelfeldern, die für die Anmietung von ALG-II-Empfängern geeignet sind.
Wohnungen von 40 bis unter 60 qm: Auch hier wird bestätigt, dass ALG-II-Empfänger zu einem größeren Anteil in mittlerer Wohnlage wohnen. Laut Bundesagentur für Arbeit bewohnten 102 641 Bedarfsgemeinschaften Wohnungen von 40 bis unter 60 qm. Etwa 14 000 Bedarfsgemeinschaften haben keine Angabe zur Wohnungsgröße gemacht. Demnach leben etwa 117 000 Haushalte in Wohnungen dieser Größe. Im Mietspiegel für einfache Wohnlage befinden sich aber nur 108 300 Wohnungen. Selbst wenn man jene unberücksichtigt ließe, von denen keine Angabe zur Wohnungsgröße vorliegt, dann müssten mindestens 100 Prozent aller Wohnungen in einfacher Wohnlage von ALG-II-Empfängern bewohnt sein. Dies ist absolut unrealistisch. Die ausschließliche Erfassung der Mietwerte aus einfacher Wohnlage (gemäß Berliner Mietspiegel) für die neuen Richtwerte bildet daher die Wohnsituation von ALG-II-Empfängern nicht schlüssig ab.
Verfügbarkeit angemessenen Wohnraums nicht dargestellt
Der Berliner Mieterverein erklärt, dass mit dem Bezug auf den Berliner Mietspiegel die Verfügbarkeit des angemessenen Wohnraums nicht dargestellt ist, unter anderem, weil jede dritte Wohnung mit einer Größe von bis zu 60 qm (323 000 Wohnungen bis 50 qm, 304 900 Wohnungen mit 50 bis 60 qm) von einem ALG-II-Empfänger (also 204 128 Bedarfsgemeinschaften mit einer oder zwei Personen) zu den neuen Mietrichtwerten angemietet sein müsste. Eine solche Wohnungsverteilung trifft nicht zu. Vielmehr müssen laut Bundesagentur für Arbeit 73 220 Ein- und Zwei-Personen-Bedarfsgemeinschaften auf größere Wohnungen ausweichen.
Der Berliner Mieterverein sieht die Rechtssicherheit der WAV nicht gewahrt, weil das Konzept zur Bestimmung der Richtwerte zur Übernahme der Unterkunftskosten von ALG-II-Empfängern nicht schlüssig ist.
Die Rechtssicherheit ist darüber hinaus nicht gewahrt, weil bei der Übernahme von Heizkosten auf Pauschalwerte abgestellt wird, die nicht regional erhoben sind, sondern aus dem bundesweiten Heizspiegel von CO2-online entnommen wurden, und die nicht alle gebräuchlichen Wärmeversorgungstypen beinhalten, da Angaben zur sonstigen gewerblichen Wärmelieferung (Contracting) fehlen, die in der Regel über den Heizkosten von öl- und gasbefeuerten Anlagen oder Fernwärmekosten liegen.
Das Bundessozialgericht hat deutlich gemacht (Urteil vom 2. Juli 2009, Az. B 14 AS 36/08 R), dass ein Anspruch auf Heizkostenerstattung in Höhe der konkret-individuell geltend gemachten Aufwendungen bestehe. Eine Pauschalisierung sei unzulässig.
Rechtssicher dürfte auch § 5 Abs. 2 WAV nicht sein, weil diese Beschränkung der Wohnkostenübernahme (trotz Einhaltung der Gesamtangemessenheitsgrenze für Mieten, die mehr als 50 Prozent über den Richtwerten liegen) rein wohnungswirtschaftlich begründet ist und nicht dem Gesetzeszweck entspricht, nämlich Richtwerte für angemessenen Wohnkosten darzustellen. Der Berliner Mieterverein geht daher davon aus, dass auch gegen die Bescheide auf Basis der neuen Rechtsverordnung massiv Widerspruch bei den Berliner Sozialgerichten eingelegt wird.
Miethöhen bei Modernisierung nicht erfasst
Entgegen der Einschätzung der zuständigen Senatsverwaltung ist der Berliner Mieterverein der Auffassung, dass über den Bezug auf den Berliner Mietspiegel modernisierungsbedingte Mietsteigerungen zum Beispiel auch für die klimapolitisch erwünschte energetische Gebäudesanierung nicht durch den Mietspiegel hinreichend abgebildet sind,
- weil die Modernisierungsrate (derzeit unter ein Prozent) so gering ist, dass diese Mieten statistisch im Mietspiegel bei der Bildung des Mittelwertes unbedeutend sind,
- weil wegen der fehlenden Aktualität der Mietspiegeldaten Baupreisentwicklungen nicht berücksichtigt sind,
- weil grundsätzlich modernisierungsbedingte Mietsteigerungen mit 11 Prozent der Investitionskosten die im Mietspiegel abgebildeten Mittelwerte ortsüblicher Vergleichsmieten in der Regel erheblich übersteigen, so dass in diesen Fällen ein Umzug des ALG-II- Empfängers zumeist unumgänglich ist.
Höhere Richtwerte als die in der neuen WAV gerechtfertigt
Aus der TOPOS-Studie ergibt sich, dass Empfänger von ALG II hinsichtlich der beanspruchten Wohnung sparsam sind. Auch liegt die Quadratmetermiete deutlich unter der, die von allen Haushalten durchschnittlich gezahlt wird. Der BMV setzt sich daher für eine umgehende Verbesserung der neuen WAV durch Erhöhung der Richtwerte, der Einführung eines Wiedervermietungszuschlages und eines Klimabonus ein. Dies sei auch finanzpolitisch vertretbar.
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