Militär bestimmt in Algerien

Die Machthaber haben keine Lösung für die anhaltende gesellschaftliche Krise

  • Abida Semouri
  • Lesedauer: 4 Min.
Nach achtjährigem opferreichen Kampf wurde Algerien vor 50 Jahren unabhängig. Dieselbe Kraft, die den Widerstand ab 1954 geeint hatte - die Nationale Befreiungsfront -, ist noch heute an der Macht. Der Rückhalt in der Bevölkerung hält sich inzwischen in Grenzen.

Algerien ist im Jahre 2012 zerrissener denn je. So zumindest der Tenor in der Bevölkerung, die für den beklagenswerten Zustand hauptsächlich die Nationale Befreiungsfront (FLN) verantwortlich macht. Dabei hatte es rückblickend für viele Algerier durchaus positive Jahre gegeben. Vor allem in den 70er Jahren war das nordafrikanische Land durch die Erdgas- und Erdöleinnahmen wirtschaftlich stabil und konnte viel Geld in den Aufbau eines vorbildlichen Gesundheits- und Bildungssystems stecken. Auch international spielte das Land in der Ära des damaligen Präsidenten Houari Boumedienne eine Vorreiterrolle in der Bewegung der nichtpaktgebundenen Staaten.

Der Absturz wurde Mitte der 80er Jahre mit dem Verfall des Ölpreises auf dem Weltmarkt eingeleitet. Die auf dem Weltfinanzmarkt aufgenommenen Kredite konnten nicht mehr bedient werden. Die darauf folgende soziale und wirtschaftliche Krise brachte zugleich ein Grundproblem zu Tage: Politisch war Algerien immer unter der Kontrolle der Militärs geblieben, die über Wohl und Wehe im Lande entschieden. Genauer gesagt über ihr eigenes Wohl und das Weh der Bevölkerung.

Das Paktieren der Militärs mit den Islamisten sollte das Land in den 90er Jahren schließlich an den Rand des Abgrunds bringen. Durch mehrere von oben verordnete Arabisierungskampagnen - der algerische arabische Dialekt ist weit vom klassischen Hocharabisch entfernt - hatte sich die Führung mit den Arabischlehrern vor allem aus Ägypten keinen Gefallen getan: Muslimbrüder mit islamistischem Gedankengut. Als die Kluft zwischen Machthabern und Bevölkerung immer größer wurde, suchten viele Algerier bei ihnen ihr Heil. Die zuvor starken linken intellektuellen Strömungen hatten spätestens nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Glaubwürdigkeit verloren.

Um sich ihre Pfründe zu sichern und das Ölgeld weiter in ihre Taschen fließen zu lassen, nahmen die Machthaber Anfang der 90er Jahre den offenen Konflikt mit den Islamisten nach deren Wahlsieg in Kauf. Die tragische Bilanz: 200 000 Tote, zehntausende Verschwundene und ein wirtschaftlich nahezu zerstörtes und international isoliertes Land. Den Preis bezahlte die Bevölkerung, während die Clans im Hintergrund mit Hilfe von FLN und Generälen unbeschadet aus dem Konflikt hervorgingen.

Heute regieren dieselben wie seit 50 Jahren. Dass vor allem junge Menschen Aufklärung über die Machenschaften ihrer Führung fordern, zeigte vor wenigen Tagen ein Zwischenfall auf dem Friedhof El Alia in Algier. Dort wurde des 20. Jahrestages der Ermordung von Staatspräsident Mohamed Boudiaf gedacht. Das Attentat, das sich 1992 vor laufenden Fernsehkameras in der ostalgerischen Stadt Annaba ereignet hatte, wurde nie aufgeklärt. Offiziell wurde ein Islamist als »Einzeltäter« verurteilt.

Boudiaf war der einzige Präsident in der Geschichte des Landes, der dem herrschenden Klüngel den Kampf angesagt hatte. Im Befreiungskampf gehörte er zum engen FLN-Führungskreis. Der unbeirrte Demokrat war aber aus Protest gegen die mit der Unabhängigkeit installierte FLN-Diktatur ins Exil gegangen. Als er bei seinem Amtsantritt 1992 verkündete, er wolle die Korruption bekämpfen, wusste er, welch mächtiger Maschinerie er den Kampf angesagt hatte und bezahlte mit dem Leben.

Zu seinem Gedenken in der vergangenen Woche war neben den Offiziellen auch eine Gruppe junger Menschenrechtler gekommen. Einer von ihnen stellte den einstigen Verteidigungsminister und starken Mann in den 90er Jahren, Khaled Nezzar, zur Rede. Abdou Bendjoudi von der Bewegung Unabhängige Jugend für Veränderung sagte ihm ins Gesicht: »Sie und die Islamisten sind Schuld an der Krise, die wir zur Zeit durchmachen. Dass Sie hierherkommen, ist unanständig. Sie tun nichts, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Sie tragen die Verantwortung. Stehen Sie dazu! Aber als ehemaliger Entscheidungsträger übernehmen Sie weder die Verantwortung für die Ermordung Mohamed Boudiafs noch für die 200 000 Toten im Schwarzen Jahrzehnt. Sagen Sie, wer diese mächtigen Leute sind, die die Wahrheit verbergen.« Die Antwort darauf blieb der 75-Jährige schuldig. Er habe alles gesagt und sogar in sechs Büchern von A bis Z niedergeschrieben. »Ich kann heute nicht sagen, ob ich Unrecht oder Recht hatte«, erwiderte er dem aufgebrachten jungen Mann. Die Wahrheit über die Machenschaften der algerischen Führungsclique werden Nezzar und seinesgleichen wohl mit ins Grab nehmen.

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