Spannung vor dem Richterspruch in Tartu

Estlands oberstes Gericht entscheidet über die Verfassungsmäßigkeit des Euro-Rettungsschirms

  • Thomas Mell, Tartu
  • Lesedauer: 5 Min.

Die sonst lebhafte Altstadt von Tartu, der Universitätsstadt im Süden Estlands, ist in den Ferien wie leer gefegt. Doch heute schaut die Europäische Währungsunion gespannt auf die 100 000-Einwohner-Stadt. Denn auf Tartus Domberg tagt Estlands Verfassungsgericht. In einem klassizistischen Gebäude neben der Halbruine des mittelalterlichen Domes entscheidet es darüber, ob der Gründungsvertrag des Euro-Rettungsschirms ESM dem Grundgesetz Estlands entspricht.

Der Fall ähnelt grob dem Prozedere in Deutschland, wo Bundespräsident Joachim Gauck seine Unterschrift unter das ESM-Gesetz hinauszögert, bis die Verfassungsklagen geprüft sind. In Estland war es Rechtskanzler Indrek Teder, ein juristischer Ombudsmann, der im März dem obersten Gericht seine Bedenken vorlegte. Er prangert an, dass der »dauerhafte Rettungsschirm« bisher nicht gekannte Verpflichtungen mit sich bringt und das nationale Parlament, das Riigikogu, sein Vetorecht in Sonderfällen verliert.

Wie das 19-köpfige Verfassungsgericht entscheiden wird, ist auch nach den Debatten der vergangenen vier Monate offen. Allerdings hat das Urteil aus Tartu - anders als im Falle Deutschlands - keinen Einfluss auf das Inkrafttreten des ESM. Dafür reicht die Zustimmung von Eurostaaten, die zusammen 90 Prozent der Kapitalanteile aufbringen. Estland ist mit seinen 0,19 Prozent unter den Euroländern ein Fliegengewicht, das nur Malta übertrifft.

Dennoch pocht die Regierung auf Estlands internationale Verpflichtungen. »Die Eurozone hat keinen Plan B, es gilt der Plan A - alle treten dem ESM bei«, sagte Finanzminister Jürgen Ligi der Zeitung »Eesti Päevaleht«. Für die rechtsliberale Regierung ist das Thema unangenehm. Ein Nein des Gerichts würde die Beteiligung der Esten am ESM auf Eis legen - und das wäre ein immenser Imageschaden für das Land, das sich als braver Mitstreiter in der Währungsunion erwiesen hat.

Estland wurde 2011 als 17. und bisher letztes Mitglied in die Eurozone aufgenommen. »Willkommen auf der Titanic«, unkten Kritiker angesichts der Schuldenkrise, von der sich immer mehr Europassagiere anstecken ließen. Auch mancher Este tauschte nur ungern seine mit nationalen Kulturgrößen geschmückten Kronen gegen die frischgedruckten Euroscheine.

In der Politik aber herrschte Eurokonsens. Schon 2007 sollte es so weit sein, aber man scheiterte am Inflationskriterium. Dann platzte die Immobilienblase, die hausgemachte Notlage wurde durch die weltweite Finanzkrise verstärkt. Die Wirtschaft schrumpfte 2009 um 14 Prozent, die Arbeitslosigkeit schnellte hoch, und Estland schlug einen rigiden Sparkurs ein.

Den Euro verlor man aber nie aus den Augen, und die Bemühungen der Regierung um den langjährigen Ministerpräsidenten Andrus Ansip wurden letztendlich belohnt. Sie argumentierte, die Gemeinschaftswährung sei ein Signal an ausländische Investoren und gebe der exportorientierten Wirtschaft, die zum großen Teil an Finnland und Schweden gekoppelt ist, einen kräftigen Schub. Zudem wird im Baltikum jede europäische Vernetzung als sicherheitspolitischer Erfolg verbucht. So haben sich auch Lettland und Litauen - anders als Polen oder Tschechien - fest vorgenommen, den Euro schon 2014 einzuführen.

Unweigerlich bekam man in Tallinn aber rasch auch die Schattenseiten der Währungsunion zu spüren. Den ESM-Plänen zufolge muss Estland 1,3 Milliarden Euro bereitstellen - ein Klacks für deutsche Verhältnisse, aber ein gutes Fünftel des estnischen Staatshaushalts. Das bestimmt den Ton bei Stammtischdebatten: Wieso sollen wir den reichen Griechen/Iren/Spaniern helfen, wo die eigenen Löhne und Renten so viel niedriger sind?

Solchen osteuropäischen Unmut fasste neulich auch der slowakische Regierungschef Robert Fico in Worte: Die Bereitschaft zur Solidarität mit südlichen Eurostaaten habe abgenommen. »Die Geduld der Öffentlichkeit ist am Ende«, sagte Fico im Berliner Kanzleramt.

Estland sieht sich im Streit um Krisenlösungen fest im deutschen Lager. Dies betonte Präsident Toomas Hendrik Ilves Anfang Juli bei einem Treffen mit Bundespräsident Gauck: Solidarität, schön und gut, aber nur bei Steuerdisziplin und Reformwillen. Estland selbst kann eine extrem niedrige Staatsverschuldung von etwa sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Griechenland 165 Prozent, Deutschland 81 Prozent) vorweisen. Auch angesichts des wirtschaftlichen Aufschwungs gilt das Land als Musterbeispiel fürs Sparlager. »Estland hat sich seit 2011 klar auf Deutschland orientiert«, erklärte der außenpolitische Analytiker Ahto Lobjakas. Doch dieser Tatbestand werde erst auf die Probe gestellt, wenn man beginnt, die Idee eines einheitlichen Steuer- oder Sozialsystems zu verwirklichen, deutete Lobjakas auf die Gedankenspiele Wolfgang Schäubles. Eben diese Widersprüchlichkeit zwischen Finanzsolidarität und nationaler Selbstbestimmung ist es, die Rechtskanzler Teder veranlasste, sich an das Gericht in Tartu zu wenden.


Die Anteile am ESM

Der EUROPÄISCHE STABILITÄTSMECHANISMUS (ESM), der langfristig zur Stabilisierung des Euro-Währungsgebietes beitragen soll, kann Mitgliedsstaaten der Eurozone unterstützen, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind - sofern sie den Fiskalpakt mit seinen strengen Haushaltsregeln unterzeichnet haben. Der ESM soll über ein Stammkapital von 700 Milliarden Euro verfügen. Diese Summe teilt sich auf in 80 Milliarden Euro einzuzahlendes und 620 Milliarden Euro abrufbares Kapital (Garantien).

Der deutsche Anteil am ESM beträgt 27,15 Prozent. Dies entspricht rund 22 Milliarden Euro eingezahltem und rund 168 Milliarden Euro abrufbarem Kapital. Die nächsthöheren Beiträge leisten Frankreich (16 Milliarden Euro Bareinlagen, 126 Milliarden Euro Garantien), Italien (14 und 111 Milliarden Euro) und Spanien (10 und 74 Milliarden).

Der ESM tritt in Kraft, sobald ihn so viele Mitgliedsstaaten ratifiziert haben, dass sie mit ihren Anteilen gemeinsam 90 Prozent des Stammkapitals stellen. Bisher haben 13 von 17 Staaten die Ratifizierung abgeschlossen. In Italien und Malta muss der ESM noch durch die Parlamente, in Estland und Deutschland wird der Vertrag durch die Verfassungsgerichte geprüft. Während die Entscheidung in Estland wegen dessen geringen Anteils keinen Einfluss auf das Inkrafttreten des ESM hat, ist die Ratifizierung in Deutschland mit seinem 27,15-Prozent-Anteil unabdingbar. dpa/nd

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