Alt, aber Kult
»El Greco und die Moderne« in Düsseldorf
Er ist bereits zu Boden gegangen. Unter dramatisch zerrissenem Himmel liegt der alte Mann auf felsigem Grund. Noch umfasst Laokoon den Hals der Schlange, doch die hilflose Haltung mit abgeknicktem Kopf und der ergebene Blick machen klar, dass er längst kapituliert hat. Kaum etwas in El Grecos Gemälde erinnert noch an jenen alten Laokoon, wie man ihn seit der Antike sah - als im Todeskampf kraftvoll sich aufbäumenden Helden. Auch die Söhne des Priesters nehmen bei El Greco ganz ungewöhnliche Posen ein. Um den Vater herum biegen sich ihre Körper, als wollten sie einen Kreis beschreiben. Einer ist schon tot. Der andere - weiterhin aufrecht - bewegt sich fast tänzerisch im aussichtslosen Ringen. Wie ein Bogen scheint der Schlangenleib zwischen seinen Händen gespannt.
Vieles ist hier neu, eigen, anders. Und noch immer verwundert es, dass 400 Jahre vergangen sind, seit El Greco solche Bilder auf die Leinwand brachte. Kaum erstaunlich scheint dagegen, wie sehr sich die frühe Moderne für die eigenartige Bildsprache des Alten Meisters begeistern konnte. Beides ist nun Thema in Düsseldorf. Die Ausstellung »El Greco und die Moderne« überblickt mit rund 40 Gemälden das Schaffen des Alten Meisters. Es ist seine erste Retrospektive überhaupt in Deutschland - ein Ereignis für sich. Aber dabei bleibt es nicht.
Hinzu kommen im Museum Kunstpalast gut 100 Werke, die veranschaulichen, was etwa Cézanne, Picasso und Delaunay, Beckmann, Kokoschka oder die Maler des Blauen Reiter so begeisterte an der Malerei jenes launischen, extravaganten Sonderlings, der 1541 auf Kreta als Domenikos Theotokopoulos zur Welt kam und in seiner Heimat zunächst als einfacher Ikonenmaler arbeitete. Der sich mit Ende zwanzig auf den Weg nach Italien begab, dort alles Mögliche aufsog, um es für die eigene Kunst nutzbar zu machen: Tizians Farben, antike Posen, die Renaissance-Perspektive, Stadt-Veduten ...
So geschult ging er 1577 nach Spanien und ließ sich bald darauf in Toledo nieder, wo seine sonderbare Bildsprache reifte. Immer mehr expressive Freiheiten kommen nun ins Spiel: El Greco stilisiert, deformiert, verfremdet. Er verfeinert seine eisige Farbigkeit und die bizarre Lichtregie. Er lässt den sichtbaren Strich des Pinsels sprechen - im Gesicht des alten Eremiten ebenso wie auf dem kräftig blauen Umhang, der den Kopf der Mater Dolorosa umhüllt. El Greco macht Stimmung mit Farbe und den dynamischen Faltenwurf zum Ausdrucksträger - so im ganz und gar gelben Gewand, das den Apostel Petrus gleichzeitig zu verbergen und zu enthüllen scheint. Und er wendet sich gegen alle Regeln der Proportion wie Anatomie, wenn er Figuren dreht und in die Höhe schraubt, als hätten sie keine Knochen. Wenn er ihre Körper maßlos in die Länge zieht. Wenn er viel zu kleine Köpfe auf schmale Hälse setzt.
Das alles macht ihn zum Vorreiter, zur Kult-Figur der frühen Moderne. Die Ausstellung in Düsseldorf konzentriert sich vor allem darauf, El Grecos später Wiederentdeckung in Deutschland nachzugehen, wo der beeindruckende Aufstieg um 1900 einsetzt. Aus dem Nichts ganz nach oben: 1874 kennt man in hiesigen Sammlungen kein einziges Bild von seiner Hand; 40 Jahre später ist der Maler Tagesgespräch. Auch weil der expressiv gestimmte Zeitgeist erkennt, wie »modern« er doch eigentlich war.
Nicht zu knapp wird die Greco-Manie damals von dem berühmten Kunsthistoriker, -händler und -publizisten Julius Meier-Graefe und seiner 1910 erschienenen »Spanischen Reise« befeuert. An sich ist es ein Tagebuch, doch geht es vor allem um El Greco. Der Ausnahmekünstler wird hier als einer der größten aller Zeiten gefeiert, weil er sämtliche Gestaltungsmerkmale der Moderne vorweggenommen habe.
Als Meier-Graefe vor gut hundert Jahren durch den Prado streift, erfasst er El Grecos Expressivität etwa in dem eigenartigen, überaus lebendigen Porträt des Juristen Jerónimo de Cevallos, das nun auch im Museum Kunstpalast brilliert. Weder Idealisierung noch äußerliche Ähnlichkeit stehen hier im Vordergrund. Vielmehr geht es um den Charakter des Ehrenmannes, den El Greco mit dem Pinsel virtuos herausarbeitet. Feinfühlig mit dünner Farbe im Gesicht, das auch wegen der beiden unterschiedlichen Augen nicht schön ist, aber dafür leibhaftig wirkt und im Kontrast zum pastosen Weiß der modischen Halskrause noch mehr Eindruck macht.
Von solchen Idee aus lassen sich mannigfache Verbindungen über die Jahrhunderte hinweg ziehen. Die Ausstellung scheidet Alt und Neu, indem sie die dunklen, meist im Rauminneren installierten Schauwände El Greco vorbehält und die helleren drum herum für die Maler der Moderne reserviert. Es wird also nichts vermischt, doch überall der Blick auf die klassisch modernen Reflexe offen gehalten. Auf Oskar Kokoschkas düstere Porträts. Auf Ludwig Meidners apokalyptische Weltlandschaft, die wie beim Spanier zum Spiegel seelischer Befindlichkeiten wird. Auf die gelängten, vergeistigten Figuren eines Wilhelm Lehmbruck. Auf Max Beckmanns religiöse Bilder, allen voran die »Kreuzabnahme«, wo sich El Grecos Eigenwilligkeiten mit Stilmerkmalen der Gotik mischen.
Auch die Maler des Blauen Reiter fühlten sich dem Spanier offensichtlich ganz nahe. So stellt Franz Marc El Greco gemeinsam mit Cézanne gar an den Beginn einer neuen Epoche in der Malerei. »Beide fühlten im Weltbild die mystisch-innerliche Konstruktion, die das große Problem der heutigen Generation ist.« Allerdings war das Feuer von kurzer Dauer. In Zeiten der Neuen Sachlichkeit legte sich die Euphorie - so schnell, wie sie gekommen war.
Bis 12. August. Museum Kunstpalast, Düsseldorf. www.smkp.de
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