Die Verbrechen der Pinochet-Diktatur sind nicht zu leugnen
Exilchilenin María Cristina Miranda über die mühselige Aufarbeitung des Traumas in ihrer Heimat
nd: Die sterblichen Überreste Ihres Schwagers Lincoyán Berríos wurden nach 36 Jahren in einem Foltergefängnis des chilenischen Geheimdienstes DINA gefunden. Hatten Sie damit noch gerechnet?
Miranda: Eigentlich hatte ich keine Hoffnung mehr. Als dann aber mit neuen Methoden die Reste anderer Verschwundener identifiziert wurden, sind die Erwartungen auch bei uns wieder geweckt worden.
Weshalb geriet Ihr Schwager 1976 in die Fänge der Pinochet-Diktatur?
Er wurde wegen seiner kommunistischen Aktivitäten verfolgt und schließlich festgenommen. Lincoyán gehörte der dritten geheimen Führung der Kommunistischen Partei Chiles während der ersten Jahre der Diktatur an. Die Mitglieder der ersten beiden Parteiführungen waren von den Lakaien der Pinochet-Diktatur bereits ermordet worden.
Was bedeuten der Fund und die Identifizierung für Sie und Ihre Familien nach so vielen Jahren?
Die mutmaßlichen Reste meines Schwagers waren schon vor fast zehn Jahren gefunden worden. Diese ganze Zeit war für unsere Familie sehr schwer. Wir wussten ja nicht mit Sicherheit, ob es sich um Lincoyán handelt oder ob er es doch nicht ist. Ich denke, dass die Situation mit der vieler deutscher Familien nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar ist, deren Ehemänner, Söhne und Väter nicht zurückkehrten. Sind sie noch am Leben? Diese Frage verhallt dann nicht. In unserem Fall bedeutet die Identifikation Lincoyáns und vieler Verschwundener, dass die Verbrechen der Diktatur nicht zu leugnen sind. Und das ist auch für die jüngeren Generationen sehr wichtig, für diejenigen, die am Ende des Regimes oder danach geboren wurden.
Nach der Identifizierung Ihres Schwagers kann die Justiz nun gegen die Mörder vorgehen. Planen Sie entsprechende Schritte?
Darauf hoffen viele von uns Chilenen. Einige der Verbrechen wurden vor Gerichten verhandelt und bestraft. Die Hauptschuldigen, die bereits verurteilt wurden, sitzen allerdings in goldenen Käfigen: in Luxusgefängnissen, die ausschließlich für sie errichtet wurden, mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten. Es sind Hotel-Gefängnisse mit fünf Sternen. Aber damit nicht genug. Von dort aus bestimmen sie nach wie vor die repressive Politik der amtierenden Regierung von Präsident Sebastián Piñera. Und immer noch leben viele Verbrecher. Andere wurden enttarnt, mussten sich aber noch keinem Gericht und keiner Gerechtigkeit stellen.
Sie sind zur Zeit der Diktatur nach Deutschland geflohen, wo Sie bis heute leben. Was verbindet Sie mit Chile?
Mit Chile verbinden mich die familiären Bande und die Freunde, die die Diktatur überlebt haben. Und ich bin natürlich besorgt um die Zukunft Chiles. Ich verfolge aufmerksam den Kampf um alles, was wir vor dem Militärputsch zur Zeit der Regierung der Unidad Popular angestrebt haben: Gerechtigkeit, Gleichheit und ein Ende des Elends so vieler Chileninnen und Chilenen.
Deutschland ist allerdings nach 39 Jahren eine zweite Heimat für uns geworden. Das Vaterland ist schließlich dort, wo man lebt, kämpft und liebt. Meine Kinder sind in Deutschland aufgewachsen und mein jüngster Sohn hat hier eine Familie gegründet. Ohne meine Kinder und meine Enkel könnte ich nicht leben.
Welche Perspektive sehen Sie für die Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur unter dem derzeitigen Präsidenten Sebastián Piñera?
Auch wenn auf juristischem Gebiet dank mutiger Richter einige Erfolge erzielt werden konnten, gibt es unter den Funktionären verschiedener staatlicher Institutionen nach wie vor eine große Angst. Solange die Verfassung von Pinochet in Kraft bleibt und solange einige der linken Kräfte unter dem politischen und finanziellen Einfluss der internationalen Sozialdemokratie stehen, wird sich daran nichts ändern. Denn diese Kräfte wollen nichts sein als die Pfleger eines siechen Kapitalismus. Unter diesen Bedingungen wird die Aufklärung der Verbrechen der Diktatur nur langsam voranschreiten.
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