Über der Zeit
Seit mehr als 1500 Jahren leben christliche Mönche abgeschieden auf dem heiligsten Berg Äthiopiens
»Nimm das Seil und klettere daran hoch«, ruft mir jemand zu. Skeptisch greife ich nach der Kletterhilfe aus rissigem Leder. Wer ins Kloster Debre Damo will, der muss sich dem altersschwachen Seil anvertrauen. Treppen oder Leitern gibt es nicht. Mehr als 20 Meter Höhenunterschied gilt es zu überwinden. Die Füße finden kaum Halt am glatten Felsen. Nur hier und gibt es ein paar Löcher im Stein, an denen man sich hochziehen kann. Zwar sichert oben ein Mönch das Seil. Doch im Falle eines Falles werde ich mit meinen 100 Kilogramm den dünnen Mann in die Tiefe reißen. Zur großen Erleichterung aller Beteiligten erreicht der Besucher aus dem fernen Deutschland den rettenden Felsvorsprung. »Welcom to Debre Damo«, begrüßt mich ein in eine blaue Robe gehüllter Mönch freudestrahlend.
Nun bin ich oben - auf dem heiligsten Felsen Äthiopiens. Hier wurden Jesus und Maria schon verehrt, als die Slawen meiner mecklenburgischen Heimat noch ihren heidnischen Göttern Swantewitt und Radegast huldigten. Der einsame Felsen in Sichtweise zum verfeindeten Nachbarstaat Eritrea ist neben der heiligen Stadt Aksum das spirituelle Herz des äthiopischen Glaubens. Erst recht bewusst wird mir das, als ich den ummauerten Vorhof der uralten Klosterkirche betrete. Knorrige Olivenbäume spenden Schatten, während ich darauf warte, das mich ein Mönch in die Kirche führt. Der zweistöckige Bau gilt als das letzte erhaltene Bauwerk aus der Epoche des spätantiken Reiches von Aksum. Der mythenumwobenen Vorgänger des heutigen Äthiopiens erstreckte sich einst bis auf die arabische Halbinsel und ging im 7. Jahrhundert unter.
Es riecht nach Weihrauch und altem Leder
Endlich schlurft ein gelbgewandeter Mönch über den sonnenverbrannten Hof und öffnet die schwere Holztür. Hinter ihr atmet alles Geschichte. In der Luft hängt der Geruch von Weihrauch und altem Leder. Die filigranen Holzschnitzereien an der Decke zeigen Tiere und Fabelwesen. An den rußgeschwärzten Wänden hängen bunte Heiligenbilder. Die dort Abgebildeten tragen griechische Züge. Nicht nur deshalb erinnern die Bilder an Ikonenmalereien, wie man sie auch aus den orthodoxen Kirchen Griechenlands und Russlands kennt. Kein Zufall, schließlich liegen die Wurzeln des äthiopischen Christentums in Byzanz.
Die Legende besagt, dass es neun griechischsprachige Heilige waren, die dem Reich von Aksum im 4. Jahrhundert das Christentum in seiner byzantinischen Spielart brachten. Abuna Aregawi, der Anführer jener neun Heiligen, soll es gewesen sein, der Debre Damo gründete. Die Legende will es, dass der Missionar am Fuße des gewaltigen Felsens stand und keinen Weg hinauf fand. Da ließ Gott eine Schlange herab. Und wie der Prinz an Rapunzels Haar, so kletterte Abuna Aregawi an der Schlange hinauf. Zur Erinnerung an dieses Wunder müssen Gläubige und Mönche noch heute den Höhenunterschied mit Hilfe des eingangs erwähnten Lederseils überwinden. Das alles erzählt mir der bärtige Mönch, während er mich durch das Halbdunkel der Kirche führt.
Schließlich bleiben wir vor einem Holzpult stehen, auf dem ein riesiges, in Leder gebundenes Buch liegt. »Diese Bibel ist mehr als 800 Jahre alt«, erklärt mir der Mönch und schlägt ehrfürchtig ein paar Seiten auf. Das Pergament ist braun und fleckig, doch die Illustrationen strahlen immer noch in leuchtenden Farben. Die Motive sind vertraut. Oftmals zeigen sie die Jungfrau Maria, die von den äthiopischen Christen ganz besonders verehrt wird.
Schließlich verlassen wir die Kirche. Nachdem man mir meinen Schlafplatz in einer nahe gelegenen Hütte zugewiesen hat, nutze ich die Zeit bis zum Sonnenuntergang für einen Spaziergang über das karge Felsplateau.
Seit den Zeiten Abuna Aregawis hat sich hier oben wenig verändert. Die Mönche wohnen in uralten Steinhütten, die sich über das gesamte Plateau verteilen. Frauen sucht man vergebens. Ihnen ist der Zutritt wie eh und je nicht gestattet. Dieses Verbot gilt auch für weibliche Tiere! Deshalb grasen hier nur Hammel und Ochsen. Während die Mönche ihr Kloster durch die Jahrhunderte retteten, veränderte sich die Landschaft am Fuße des Felsens dramatisch. Ein paar uralte Bäume hier und dort künden von einer anderen Zeit, als die nun kargen Berge ringsum noch grün waren und sich in den Tälern Elefanten und Löwen tummelten. Das ist lange her. Die letzten Elefanten verschwanden in den Wirren des Bürgerkrieges, der das Land bis in die 90er Jahre im Griff hielt. Die Bäume verschwanden schon vorher. In den 90ern entstand unweit des Klosters ein neuer Staat. Eritrea heißt er. Seine Bewohner sind wie die Menschen hier in Nordäthiopien Angehörige des Volkes der Tigray.
Doch obwohl man dieselbe Sprache spricht und den gleichen Glauben teilt, brach 1998 ein blutiger Krieg aus, der mehr als 100 000 Menschen das Leben kostete. Von Debre Damo ist es nur ein Steinwurf bis nach Eritrea. Ob sie etwas von den Kämpfen mitbekommen haben, möchte ich von einem alten Mönch wissen. Der 93-jährige Abba Gebre Meskal schaut in die Ferne und sagt: »Wir leben hier weit über der Zeit.« Der Greis muss es wissen. Er kletterte 1940 hier hinauf. Damals standen die italienischen Kolonialtruppen im Land. »Seitdem lebe ich hier oben und bin nie wieder hinunter gestiegen«, erklärt er. Der halblinde Mönch steht für eine andere Epoche, ein anderes Äthiopien, das sich mehr als ein Jahrtausend im Tiefschlaf befand. »Dabei die Welt um sich herum vergessend, die irgendwann auch das Land vergaß«, wie der britische Historiker Edward Gibbon einst schrieb. Mit dem Untergang des Reichs von Aksum verabschiedete man sich von der politischen Weltkarte. Wie das Kloster, so liegt auch das klassische Äthiopien auf einem Hochplateau, dass das Land vor Invasoren schützte. Derart isoliert, konnte sich die christliche Kultur in einem feindlichen Umfeld halten.
Die jungen Mönche besitzen Handys
Doch das moderne Äthiopien ist längst erwacht in einer Moderne, die sich mit all ihren Problemen als gnadenlos entpuppt. Auch hier auf dem Felsen zeigt sich, dass man dieser Zeit nicht mehr entkommen kann. Die jüngeren Mönche stehen per Mobiltelefon in ständigem Kontakt mit der Außenwelt. Einer wie Gebre Meskal wirkt da wie ein Relikt aus einer anderen Zeit.
Auf seinen Stock gestützt, führt er mich in seine Hütte. Ein karger Bau aus grob zusammengesetzten Felssteinen. Die spartanische Einrichtung besteht aus einem schiefen Holzbett, ein paar Heiligenbildern und diversen Gefäßen aus Ton und Plastik. Bei ihm wohnt ein junger Mann, der sich um das Essen kümmert und die Hütte sauber hält. »Das ist mein Novize«, erläutert Gebre Meskal. »Sieben Jahre muss er mir dienen. Im Gegenzug erhält er eine theologische Ausbildung. Danach kann er entscheiden, ob er Mönch wird oder Priester«. Während er mir dies erzählt, schaut Gebre Meskal mich an. Sein linkes Auge ist bereits blind. Trotzdem kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass er mit diesem besser sieht.
Mittlerweile ist es dunkel geworden. Ich wünsche dem dem Greis eine gute Nacht und mache mich auf den Weg zu meiner Hütte. Während ich es mir auf dem Stroh bequem mache, lausche ich dem monotonen Gesang der Mönche. In der benachbarten Kirche feiern sie ihre Messe, die bis zum Sonnenaufgang zelebriert wird. Jede Nacht dieselben Lieder, dieselben Gebete. Ohne Unterbrechung. Seit mehr als 1500 Jahren.
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