Bernd und die Kümmerer
Auf seiner Sommertour erkundet LINKE-Chef Riexinger freundlich die Untiefen ostdeutscher Befindlichkeiten
Leicht ramponierte Schultaschen stehen in Reih und Glied neben kleinen Zuckertüten. In der Kleiderkammer des Mehrgenerationenhauses in Bergen auf Rügen kann man sich mit dem Nötigsten eindecken, wenn nichts und niemand sonst mehr hilft. »Ich ziehe doch keine gebrauchte Unterwäsche an!« Solche Sätze hören die Mitarbeiterinnen hier immer wieder. Ein letztes Aufbäumen des Stolzes ihrer Gäste, wenn sie das erste Mal kommen. Die Sachen, die sich hier fein säuberlich in Regalen stapeln, finden immer ihre Abnehmer.
Etwas deplatziert steht der Trupp aus Berlin zwischen den Wäschestapeln. Bernd Riexinger, der Parteichef der LINKEN, fragt tapfer nach, erfährt Genaueres über die Kunden der Kleiderkammer. Bewohner eines Altenheims zum Beispiel, die sich neben den Kosten ihrer Unterkunft kaum etwas leisten können, kommen gern wieder. Frau Jüptner, die sich durch die Arbeit hier ihre schmale Rente aufbessert, spricht von rund 500 Kunden pro Woche. Stiller Zorn schwingt in ihren Auskünften mit. Auch darüber, dass ein wenig von der Geringschätzung, die die Entwürdigten immer wieder trifft, auch an ihnen, den hier Beschäftigten, kleben zu bleiben scheint.
Riexinger zeigt sich berührt. Beeindruckt auch von Bibliothek, Frauenfrühstück, Kindertreff, dem Sportklub im Mehrgenerationenhaus. Die von Frauen für Frauen e.V. betriebene Einrichtung bietet eine Menge, nicht nur für Menschen, die allein sind oder arm oder beides. Aber sehr oft für solche. Bergen auf der gerade von Urlaubern dicht bevölkerten Ostseeinsel ist nur eine Station auf der Sommertour des Parteichefs in diesen Tagen. Am Freitag überlässt er die zweite Hälfte der Reise in Hannover symbolisch seiner Kovorsitzenden Katja Kipping.
Immer wieder in den Gesprächen fragt Riexinger nach Verdiensten und den Umständen der sozialen Arbeit. Und immer endet es mit dem Satz, dass diese hierzulande eine Aufwertung brauche. Der Mann mit den schwäbelnden Nachfragen hinterlässt bei seinen Gesprächspartnern in Bergen einen ähnlich guten Eindruck wie die bei ihm. Darf man vermuten.
Bernd Riexinger ist nicht chefig. Gregor Gysi benutzte diese Wortschöpfung einmal für sich selbst, um Eigenständigkeit gegenüber dem dominant auftretenden Oskar Lafontaine zu betonen. Wenn das Wort passt, um Koordinaten zu definieren in den Machtverhältnissen der LINKEN, dann ist Klaus Ernst, der letzte Vorsitzende, chefig. Bernd Riexinger, der neue, ist es nicht. Am Abend steht er im Kulturhaus von Grimmen vor 60 »interessierten Bürgern« und erläutert, wie er gemeinsam mit Katja Kipping den Aufbruch der Partei organisieren will. Die Bürger sind offenbar sämtlich Mitglieder der Linkspartei, in ihren anschließenden Fragen spiegelt sich die Sorge um deren Schicksal.
Wie wollt ihr der Partei wieder auf die Beine helfen? Wie verhindern, dass sie sich wieder in Machtkämpfen zerlegt? Riexinger erläutert das 120-Tage-Programm der beiden Vorsitzenden, in dem das Zuhören eine so große Rolle spielt. »Es dauert lange, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen«, sagt er. Die Genossen stimmen seufzend zu. Ab heute hat er bei vielen Teilnehmern einen Stein im Brett. Eine Genossin zeigt sich nach der Veranstaltung erleichtert, dass sie mit dem Göttinger Wahlergebnis nunmehr ihren Frieden machen kann. Dietmar Bartsch, der Riexinger auf dem Parteitag in Göttingen bei der Wahl zum Vorsitzenden unterlag, ist in Mecklenburg-Vorpommern zu Hause. Ein Genosse bescheinigt der neuen Führung nach der Veranstaltung »geschicktes Agieren«. Und er verleiht seinen Worten Gewicht, indem er sich als stellvertretender Kreisvorsitzender in Stralsund zu erkennen gibt.
Als Riexinger sich nach dem Göttinger Wahlparteitag den Mitarbeitern in der Parteizentrale in Berlin vorstellte, überwand er Misstrauen schon mit der beiläufigen Bemerkung, bei Ver.di herrsche ein anderer Umgangston als bei der IG Metall. Riexinger war bisher Ver.di-Geschäftsführer in Stuttgart. Bei uns sind die Hierarchien eher flach, hieß das. Die Mitarbeiter, die die Entscheidung in Göttingen zwischen dem ehemaligen Bundesgeschäftsführer Bartsch und Riexinger um den Parteivorsitz mit klar verteilten Sympathien verfolgt hatten, registrierten dies dankbar. Mit seinem ruppigen Stil hatte sich Riexinger Amtsvorgänger, der kämpferische IG-Metall-Funktionär Ernst, im Karl-Liebknecht-Haus nicht nur Freunde gemacht.
»Führung der Partei ist wichtig, aber die Basis ist wichtiger.« Die Genossen im Grimmener Kulturhaus klatschen. Den meisten scheinen die Probleme, die die Partei monatelang lähmten, sowieso wie aus einer anderen Welt. Sie haben auch ohne den Streit zwischen den Flügeln und ihren Wortführern genügend Probleme. Arbeitslosigkeit und Abwanderung, Gewerkschaftsfeindlichkeit in Betrieben oder die NPD, der das Totschweigen durch die Konkurrenz im Landesparlament bisher nicht geschadet hat. Und die Linkspartei verliert Genossen, leidet unter dem Handicap einer älter werdenden Mitgliedschaft. Nach der Kreisgebietsreform ist aus zwei Kreisverbänden der neue, größere Kreisverband Vorpommern-Rügen entstanden. Zunächst hat das die Wirkung einer Zerschlagung funktionierender Strukturen, stellt die Kreisvorsitzende Kerstin Kassner nüchtern fest. Größere Entfernungen erschweren den Mitgliedern zudem die Mitarbeit. Riexinger hat für die rund 70 Kilometer von Sagard nach Grimmen anderthalb Stunden im Autostrom der Rügen-Urlauber gebraucht.
Kassner greift ein Wort aus Riexingers Rede auf: Kümmererpartei. Das ist die LINKE derzeit auch in einer Weise, in der sie es lieber nicht wäre. Kassner verschmitzt: »'Kümmerer' werden in der hiesigen Landwirtschaft Jungtiere genannt, die in ihrer Entwicklung nicht recht vorankommen.« Es ist ein gequältes Lachen, das der Bemerkung folgt. Riexinger versucht es behutsam: »Wenn ihr das alles hoffentlich mittragt, werden wir wieder zu einer anerkannten Kraft«, verspricht er nach seinen Erläuterungen zur Politik der neuen Führung. Und das Quentchen Unsicherheit, das da zu hören ist, lässt das Publikum umso eifriger nicken.
Der Schwabe widmete den ersten großen Teil seiner Reise den Parteigliederungen in Mecklenburg-Vorpommern. Das hat seinen Grund wohl in den letzten Monaten des Streits, in dem sich innerparteiliche Kritiker der Führung gerade im Nordosten lautstark zu Wort gemeldet hatten. Am Vortag hat er mit dem Landesvorsitzenden Steffen Bockhahn eine Rundfahrt durch den Rostocker Hafen gemacht. Außer daran, wie Riexinger seinen Heimatort aussprach, hatte der an ihm nichts auszusetzen. »Roschtock«, Hilfe!
Nach dem Parteitag hatte Dietmar Bartsch der neuen Parteispitze »eine glückliche Hand« gewünscht. Die zeigt Riexinger, wenn er Reden hält, gern geballt. Er könne nicht erkennen, wieso Engagement in der Kommunalpolitik ein Widerspruch sein solle zum Engagement der Partei in den sozialen Bewegungen. Parlamentarismus und Systemkritik - in Göttingen waren diese beiden Philosophien für den ultimativen Erfolg der LINKEN erneut aufeinandergeprallt. Die stärkeren Landesverbände im Osten pochen darauf, dass ihre kommunale Verankerung das Erfolgsrezept der Partei sei. Auch im Westen sein müsse, wo die systemkritischen Anhänger sozialer Bewegungen ihre scheinbar jederzeit regierungsbereiten Ost-Genossen kritisch beäugen.
In dieser Woche haben Kipping und Riexinger der SPD und den Grünen eine Offerte gemacht, die man mit einigem guten Willen als »ausgestreckte Hand« interpretieren kann, auch wenn die prompt erfolgte Ablehnung durch SPD-Chef Sigmar Gabriel absehbar war. Die Option einer rot-rot-grünen Bundesregierung nach der Bundestagswahl im nächsten Jahr werde nicht an der LINKEN scheitern, wenn mehrere Bedingungen erfüllt seien. Genannt sind das Verbot von Waffenexporten, die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen, eine Reichensteuer und eine armutsfeste Rente. Kipping nannte dies am Montag eine offensive Umsetzung der im Parteiprogramm festgeschriebenen Mindestbedingungen für eine Regierungsbeteiligung der LINKEN. Ein Schachzug, der von Selbstbewusstsein zeugt.
Der Schwabe beschwört die »80 Prozent Gemeinsamkeiten« in seiner Partei. Über den Rest dürfe man ruhig weiter streiten. »Wer will schon in einer Partei sein, in der alle einer Meinung sind!« Zuvor hat er beteuert, die Befindlichkeiten im Osten langsam besser zu verstehen. Auch dass es nicht Roschtock heißt, werde er sich noch merken.
Er könne nicht erkennen, wo der trennende Unterschied von Ost und West in der Partei liege, so Riexinger. Er beschwört die Aufbruchstimmung, die er selbst offenbar schon deutlich spürt. Parlamentarismus und Systemkritik. »Wir brauchen beides!«, ruft der Parteichef in die Grimmener Halle, während es draußen langsam dunkel wird.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.