Das Hartz-Dilemma der Linken

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 5 Min.
Katja Kipping und Bernd Riexinger haben dieser Tage Post bekommen - von den eigenen Genossen. Man habe da einige Fragen zum rot-rot-grünen Vorstoß der Doppelspitze, so die Antikapitalistische Linke Niedersachsens in einem Offenen Brief, zum Beispiel danach, warum gegenüber SPD und Grünen als Bedingung für eine Zusammenarbeit zwar einen Stopp der Sanktionen gegen die von der Hartz-Reform Betroffenen betont wurde, nicht jedoch die Abschaffung »dieses Schandgesetzes« selbst.

Man kann den Offenen Brief aus Niedersachsen pars pro toto für die zentrale, die Identität bestimmende Bedeutung der Forderung »Hartz muss weg« in der LINKEN lesen. Eine ihrer Quellorganisation - die Wahlalternative - wäre ohne die Agenda-Politik von Rot-Grün womöglich gar nicht gegründet worden. »Das Hartz-Gesetz«, heißt es im Erfurter Programm der LINKEN, hätte »zum endgültigen Bruch vieler sozial und links gesinnter Menschen mit SPD und Grünen und zur Entwicklung einer neuen politischen Kraft« geführt.

Die organisierte Gängelung Hunderttausender, der gewollte Druck auf das allgemeine Lohnniveau, die Strategie der disziplinierenden Verunsicherung ohnehin schon bedrohter Arbeitnehmermilieus, die mit der Hartz-Reform einhergehende Kinderarmut, die versagten Bildungschancen - die Folgen einer Politik, die vom »Fördern« nicht viel verstanden hat und sich vor allem aufs »Fordern« verlegte, sind in den vergangenen Jahren bestens dokumentiert, vielfach beklagt und oft kritisiert worden.

Allein: Es hat sich in den vergangenen Jahren nicht viel daran geändert. Weder ein deutliches Urteil aus Karlsruhe noch die Diskussionen um wachsende Armut und wenig hilfreiche Bildungsgutscheine haben in der Politik für die nötige Bewegung gesorgt. Was dereinst noch als massenhafter Protest von unten auf Montagsdemonstrationen gegen die Agenda ankämpfte, lastet heute auf den Schultern einiger weniger Initiativen. Gewerkschaften und Sozialverbände konnten noch so oft und noch so kritische Bilanzen des Hartz-Systems ziehen. Und auch eine Linkspartei, welche die strikte Absage an Hartz IV als ihr Alleinstellungsmerkmal ausgibt, hat der bestürzenden »Normalität« von Armut kaum etwas entgegenzusetzen.

Nachhaltige Verunsicherung

Selbstverständlich soll niemand deshalb von einem Ziel ablassen, weil die Chancen, es zu erreichen, gerade nicht besonders günstig sind. Aber so richtig die Forderung »Hartz muss weg« auch ist, so real ist die Gefahr, dass die LINKE an Zustimmung verloren hat und weiter verliert, weil sie diesem so wichtigen Politikversprechen praktisch nicht näher gekommen ist. Sie könnte dies, und das ist ein Dilemma, derzeit nur mit Bündnispartnern, denen die Agenda-Vergangenheit anhängt.

Natürlich: Die SPD hat nach der Wahlpleite vom Herbst 2009 Selbstkritik geübt. Sigmar Gabriel etwa hat hier und da eingestanden, dass »die nachhaltige Verunsicherung in der Wählerschaft« mit den Agenda-Reformen selbst produziert worden sei. Parteitagen der Sozialdemokraten lagen Anträge vor, wenigstens die schlimmsten Ungerechtigkeiten der Hartz-Realität zu korrigieren. Und als das Bundesverfassungsgericht die Berechnung der Regelsätze für grundgesetzwidrig erklärte, drängelte sich die SPD plötzlich an die Spitze einer Bewegung, welche die zuvor selbst bemessenen Transfers ein wenig anheben musste.

Doch statt einer Politik der Überwindung hat sich eine Strategie der Historisierung der Agenda-Politik bei den Sozialdemokraten durchgesetzt: Mal zeigt sich das, wenn die dem linken Flügel der SPD zugerechnete Generalsekretärin Andrea Nahles die »Reform« als schon »fast Geschichte« bezeichnet und erklärt, »mittlerweile« würden viele ihr bescheinigen, »dass wir Sozialdemokraten gut regiert haben«. Mal zeigt sich das in dem selbstgewissen Lob, die Bundesrepublik wäre ohne die Agenda 201 »nicht so gut durch die Krise gekommen«. Und mal in dem Versuch, die Hartz-Gesetze gerechtigkeitsphilosophisch einzugemeinden - wie es etwa der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach getan hat, der unter Rückgriff auf John Rawls eimal meinte, es seien »linke Reformen« gewesen.

Grüner Prioritäten-Streit

Etwas anders verhält es sich bei den Grünen. Der Partei hängt die Hartz-Reform nicht so an, weil ihre Kernwählerschaften noch nie in den prekären Randbereichen der Gesellschaft lagen. Vor den Bundestagswahlen 2013 kann die Partei deshalb auch öffentlich über ihre »Prioritäten« streiten, und da spricht sich dann etwa ein Cem Özdemir dafür aus, Geld eher in Bildung zu stecken »statt für klassische Transferleistungen« auszugeben. Und der hessische Fraktionschef Tarek Al-Wazir meinte, »fünf Euro mehr Regelsatz werden kaum bemerkt, kosten aber eine halbe Milliarde Euro«.

Auf dem linken Flügel der Grünen müht man sich derweil, die Partei an ihre eigene Beschlusslage zu erinnern - und die verlangt nicht nur eine Regelsatz-Anhebung auf 420 Euro. Mit einem eigenen Grundsicherungskonzept will man »die Fehlentwicklungen von Hartz IV« beseitigen - um »die ursprünglichen Ziele der Reform« zu erreichen. Dazu zählen die Grünen »eine armutsfeste Existenzsicherung und eine Politik des Förderns, der Motivation und der Anerkennung, die ohne Sanktionen auskommt«. Aber was wäre das anderes als die Überwindung der Hartz-Gesetze - und ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Grünen es anders nennen?

Im vergangenen April hatte der damalige Linken-Chef Klaus Ernst öffentlich eine »Generalrevision« von Hartz IV gefordert. Aus Sicht einiger: nur. Wie im Fall des Offenen Briefes aus Niedersachsen folgte eine kritische Reaktionaus seiner Partei prompt: »Hartz IV ist Armut per Gesetz und auch durch eine noch so gut gemeinte Reform nicht zu verbessern.« Das mag sein - ohne irgendeine »Reform« allerdings, für die politische Mehrheiten nötig sind, wird es eine Verbesserung der Lebensbedingungen Hunderttausender Erwerbsloser und ihrer Angehöriger aber ebenso wenig geben.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.