Hochsommer und Revolution
Der Briefwechsel zwischen Peter Hacks und André Thiele - ein Dauergespräch über Vernunft und Fortschritt
Der Dramatiker Peter Hacks hat von 1997 bis zu seinem Tod 2003 einen intensiven Briefwechsel mit dem späteren Verleger André Thiele aus Mainz gepflegt. Diese Korrespondenz, die jetzt gedruckt vorliegt, ist ein außergewöhnliches Zeugnis produktiver Kommunikation und in vieler Hinsicht höchst bemerkenswert.
Bemerkenswert deshalb, weil sich hier zwei auf den ersten Blick sehr ungleiche Protagonisten eine Ebene der Selbstverständigung auf Augenhöhe erarbeiten, auf der beide sich respektieren und gegenseitig Anerkennung zollen. Es könnte leicht fallen, aus dem Eindruck der ersten 160 Seiten des Briefwechsels abzuleiten, dass der eine, der berühmte, gerühmte und wegen seiner »einen politischen Meinung unter mehr als einer Regierung« (Hacks über Hacks) verleumdete Dramatiker, dem anderen, dem zur Briefzeit nahezu unbekannten Thiele, all sein Wissen aus dem Kreuz brach, um das Buch »Zur Romantik« mit möglichst wenig Bewegungsaufwand quellentechnisch abzusichern. Mag dies am Anfang ansatzweise gestimmt haben, so stimmt es spätestens dann nicht mehr, als Hacks dazu übergeht, generelle Äußerungen zu Politik und Kultur in Deutschland zu machen, die Thiele wiederum ebenso spitz und pointiert beantwortet. Daraus entwickelt sich etwas, das man getrost als Dauergespräch über Vernunft und Fortschritt bezeichnen kann, wohltuend jeder Nebensächlichkeit, allen Tagesränken und sämtlichem Klatsch abhold, nur darauf gerichtet, Ziele zu fixieren, Geradlinigkeit zu postulieren und das Allgemeine zu erkennen, um das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterscheiden.
Der Inhalt des Briefwechsels gruppiert sich um drei Komplexe, die sich folgendermaßen beschreiben lassen: Der erste Komplex illustriert die intensive Suche nach den Ursachen für die verheerende Rolle des romantischen Denkens in Literatur und Politik, die für Hacks seit Mitte der 1970er Jahre Arbeitsmittelpunkt war und die schließlich 2000 in der verschwörungstheoretischen Schrift der Königsklasse »Zur Romantik« kulminierte. Thiele kontaktiert Hacks zunächst deswegen, weil er selbst zu dem jüdischen Publizisten Saul Ascher (1767-1822) forscht, über den Hacks 1991 eine bahnbrechende Abhandlung veröffentlicht hatte, um Ascher auf den Begriff und den deutschtümelnden Nationalismus seit Fichte und Jahn aufs Schafott zu bringen. Ascher, Bonapartist, Revolutionär und progressiver Befürworter der aufgeklärten Monarchie, war der Erste, der dezidiert auf die Gefahren des systematischen Antisemitismus in der deutschnationalen Gelehrsamkeit um 1800 aufmerksam machte. Lange bevor das Philistertum deutschen Ausgrenzungsgeistes zu einer epidemischen Seuche wurde, brachte Ascher bereits auf den Punkt, wie sehr die selbsternannte »Weltgeltung« des Deutschen Reiches vom ethnischen Reinheitsgebot abhing.
Aus der Ascher-Übereinstimmung zwischen Hacks und Thiele wird bald eine zur Romantik überhaupt, deren desaströse Wirkung in ihren verschiedenen Formen und Farben nachgerade bis heute dazu führt, Stimmung, Innerlichkeit und Fronde gegen Klarheit, Objektivität und Staatsvernunft in Stellung zu bringen. Romantik war für Hacks nicht nur eine literarische Geißel. Die Übertreibung des subjektiven Meinens gegenüber der Bemühung um objektives Wissen unterwandert auch die Politik, wodurch politisches Denken zur voluntaristischen Farce verkommt. Dann allerdings ist ein Gemeinwesen nicht mehr mit strategischem Weitblick zu leiten, und so sieht die herrschende Politik dann in der Regel auch aus. Das theoretische Werk von Peter Hacks, niedergelegt in seiner Ästhetik, die drei Bände der Werkausgabe füllt, nicht umsonst »Die Maßgaben der Kunst« heißt und in einer Linie mit den Ästhetiken von Hegel und Lukács steht, ist mächtiges Zeugnis klassischer Argumentation gegen romantische Anwandlung und schwer zu widerlegen. Thiele lernt viel von Hacks in dieser Zeit und kann in seinem schmalen Essayband »Eine Welt in Scherben« von 2008 nachweisen, wie gut.
Der zweite Komplex betrifft eine Art Zwischenspiel nach der Romantik-Abrechnung bis Anfang 2002, als Thiele Hacks gegenüber ruchbar werden lassen muss, dass er eine Festschrift zu dessen 75. Geburtstag im März 2003 plant. Diese Passagen befinden sich in bester Gesellschaft der Weltliteratur - von beiden Seiten. Es geht nicht nur um Gott und die Welt, die Welt und den Gott, den Weltgeist und Luzifer, sondern auch um das Wetter, das Hacks im Frühjahr 2000 (am 9. Mai) so kommentiert: »Mit dem gegenwärtigen Hochsommer bin ich mißvergnügt; denn ich habe mit ihm nicht gerechnet. Revolutionen und Jahreszeiten, finde ich, sollen sich bescheiden und mit ihrem Eintreten warten, bis man sie verlangt.« En passant heißt es weiter: »Doch, Balzac kann man lesen. ›Kurtisanen‹ und ›Illusionen‹ muß man. Ich grüße, Peter Hacks.« Am 16. Mai 2000 antwortet Thiele: »Balzac also noch. Gut. Hochsommer und Revolution haben neben der Unzeit gemeinsam, daß sich Menschen auf der Straße herumtreiben, die man nicht für möglich hält. Sie tragen Dinge auf dem Leib, in denen besser keiner seinem Schöpfer begegnen sollte, sie trinken viel und hören rohe Lieder, sind binnen kürzestem erschöpft und liegen wirr umher. Die Rosen fangen an zu blühen. Die Vernünftigen gehen an die Arbeit. Die besten Grüße und Gratulation zur Reiselust von Ihrem ergebenen Thiele.« Wenn man will, kann man durchaus ergeben sein in Fällen, in denen das Beibringen von Größe so prägnant gelingt, weil es zutrifft (Balzac). Und in der Dialektik von Hochsommer und Revolution trügt die eigene Beobachtung zu selten, um sie nicht für wahr zu halten.
Die Festschrift zum 75. Geburtstag des Dichters Peter Hacks ist 2003 unter dem Titel »In den Trümmern ohne Gnade« und in der Herausgeberschaft von André Thiele erschienen. Über die Auswahl der Festschreiber gibt es zu Beginn des dritten Komplexes zwischen Hacks und Thiele eine Auseinandersetzung. Die Geheimhaltung vor dem zu Würdigenden schlägt fehl, weil Thiele einige Adressen benötigt, die er über die Verlage nicht bekommt und bei Hacks nachfragt. Hacks will Thieles Liste der Einzuladenden nicht und legt selber eine fest, unterteilt in die drei Abteilungen Erwünschte, Leidliche und Schurken. Um die Schurken zur Mitarbeit ex negativo zu bewegen, soll eine Briefkastenfirma aus England bei eben diesen objektive Berichterstattung zu Hacks vorgaukeln. Erhofft werden schurkige Statements der Schurken, die dann in die Festschrift aufgenommen werden können. Die Firma erhält den Namen »Scapa Flow Arts & Promotion Co.« und wirbt mit schönen Fragen wie »Warum wird Hacks von der deutschen Presse so geschont?« um Beteiligung am europäischen Diskussionsstil. Im Juli 2002 heißt es allerdings bei Thiele lapidar: »Scapa Flow: ist abgesoffen«. Warum, ist bedauerlicherweise unklar. Es wäre durchaus hilfreich gewesen zu erfahren, was beispielsweise der von Hacks so treffend als »Eduard Bernstein des Tingel-Tangel« charakterisierte Wolf Biermann zum ästhetischen Revisionismusstreit zu fabulieren gehabt hätte. Leninistischer geht es kaum, denn das offene Wort der Fortschrittsverweigerer ist im Generalkonflikt unserer Zeit immer besser als das verschleierte.
Weil wir gerade dabei sind: Zu Silvester 2002 fragt Hacks ironisch, ob Thiele ihm zu einem Titel wie »Fragen des Leninismus« raten würde. Die Replik Thieles vom 20. Januar 2003 lautet wie folgt: »Seien wir realistisch. ›Fragen des Leninismus‹, den Titel versteht in Deutschland allein die Reaktion. Den Sozialisten müssen Sie Bücher geben wie ›Hölderlins erklärte Himmelfahrt‹ oder ›Buschibau und Ratzifatz‹, wenigstens wenn Sie die Westdeutschen dabeihaben wollen. Am besten nennen Sie sich fortan Jeanette Dosenbier bzw. Erdmute Pontevecchio, sagen, Sie seien 19, publizieren statt die ›Maßgaben‹ dann ›90 - 60 - 90‹ und schreiben auf den Umschlag, darin packe eine Theaterhure mit erschütternder Offenheit respektive schonungsloser Ehrlichkeit über Geschehnisse vor, hinter und unter dem roten Vorhang aus. Das würde sogar in ›theater heute‹ besprochen. - Am dringendsten empfehle ich ›Auf dem Prüfstand‹.« Wer so schreibt, erwartet eine Diskussion und keine Akklamation.
Erst spät erfährt Thiele von der tödlichen Krankheit, die Peter Hacks heimgesucht hat. Die sporadischen Briefe des Frühsommers 2003 bleiben sachlichen Zuschnitts. Es ist zu vermuten, dass Hacks sich jeglicher Sentimentalität zu verweigern wünschte und dies, Klassiker bis zum Schluss, von allen anderen, mit denen er in Kontakt war, in gleichem Maße verlangte.
Peter Hacks (Jg. 1928) und André Thiele (Jg. 1968) haben sich nie gesehen. Trotzdem liest man aus ihren Briefen eine innere Verwandtschaft heraus, die aus Gründen des Vertrauens in die Vernunft, in die Stichhaltigkeit des Weltgeistes und in die Notwendigkeit der aufgeklärten Staatslenkung ein Hauptgewinn für die deutsche, politisch verantwortliche Literatur ist. Gegen die viel zu langen »Pausenzeichen der Vernunft« (Thiele an Hacks am 5. Februar 2003) muss die fortschrittliche Haltung immer auf Sendung sein. Der von Felix Bartels hervorragend hergerichtete Apparat vervollständigt ein Leseerlebnis von exorbitantem Rang.
Der Briefwechsel zwischen Peter Hacks und André Thiele 1997 - 2003. Hrsg. von Felix Bartels. Eulenspiegel Verlag Berlin 2012. 512 Seiten, geb., 24,95 €.
Zum Weiterlesen:
In den Trümmern ohne Gnade. Festschrift für Peter Hacks. Hrsg. von André Thiele. Eulenspiegel Verlag Berlin 2003, kartoniert, 256 Seiten, 14,90 €.
André Thiele: Eine Welt in Scherben. Essays & Historien. Verlag André Thiele Mainz am Rhein 2008, kartoniert, 110 Seiten, 14,90 €.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.