Mehr Stress für weniger Geld
In Berlin gingen Mitarbeiterinnen ambulanter Pflegedienste auf die Straße
Sie kamen zu Hunderten, einigen steckte die Müdigkeit von der Frühschicht sichtbar in den Knochen. In roten Shirts und Westen zeigten sich die Pflegerinnen der Caritas; Poloshirts in lila oder grün über weißen Hosen waren als Dienstkleidung kleinerer Anbieter zu erkennen. Von einer »Rennpflege« sprechen die Frauen: »Früher konnten wir noch mit den Patienten spazieren gehen.« Das scheint gefühlte Jahrzehnte zurückzuliegen. Jetzt machen sie Trauerbegleitung und halten den Arztkontakt, zusätzlich zur eigentlichen Pflege, sind ständig auf Trab. Immer mehr Patienten vereinsamen: »Wir sind oft noch die einzigen, die kommen.«
Das Bild bestätigt auch Hans-Joachim Wasel, Anmelder der gestrigen Proteste und zugleich Fachreferent Altenhilfe bei der Caritas Berlin: »Die zunehmende Schwere der Fälle, immer häufigere Multimorbidität - das geht alles zu Lasten der Pflege und kann nicht mehr kompensiert werden.« So wird pauschal nur noch eine höherwertige Leistung wie ein Verbandwechsel bezahlt, die Gabe von Medikamenten oder die Blutdruckmessung beim gleichen Patienten aber nicht mehr.
Schon die Ankündigung der Proteste hat aber offenbar dazu beigetragen, dass es in der Mediation in Mecklenburg-Vorpommern zwischen den Pflegediensten und den beteiligten Kassen so schnell zu einer Einigung kam. Dennoch traut Bernd Meurer, Präsident des Bundesverbandes sozialer Anbieter e.V., dem Frieden nicht: »Diese Einigung ist kein Beispiel für Berlin.« Dort und in Brandenburg treten die Verhandlungen um eine Schlichtung teilweise schon seit Jahren auf der Stelle.
Die Situation für die ambulanten Krankenpflegedienste in der Hauptstadt nennt Hans-Joachim Wasel »unerträglich«. Seit 2007 wurden hier keine Erhöhungen der Vergütungen bei AOK-Versicherten vorgenommen. »Seit dem Zusammenschluss zur AOK Nordost«, so der Caritas-Vertreter, »wird seitens der Kasse keine Verantwortung mehr für die Sozialpolitik in der Stadt übernommen.« Schiedsversuche führten nicht weit, die Versicherer ließen die Dienste regelrecht auflaufen. So warten die Berliner Anbieter seit dem 29. August 2011 darauf, dass die brandenburgische Gesundheitsministerin Anita Tack (LINKE) eine Schiedsperson einsetzt.
An die Adresse des Bundesgesundheitsministers Daniel Bahr (FDP) gerichtet sagt Wasel: »Die Rahmenbedingungen für die Pflege sind geradezu prähistorisch.« Kleine Pflegedienste könnten dem geforderten »Wettbewerb« nicht standhalten und müssten ihre Gehälter noch weiter absenken. Sie müssten zudem auf Strukturveränderungen und Preissteigerungen reagieren: »Es ist absurd. Alles wird teurer, aber die Pflege soll billiger werden. Kleine Firmen werden unter diesen Umständen untergehen.«
In Mecklenburg-Vorpommern hatten sich Krankenkassen, darunter die AOK Nordost unter Mediation der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt, mit den Pflegeverbänden auf das weitere Vorgehen nach dem umstrittenen Schiedsspruch geeinigt. Dort soll nun eine tarifgerechte Entlohnung der Beschäftigten gesichert sein. Ein Maßnahmepaket für die Laufzeit des Schiedsspruchs bis Ende 2013 enthält »finanzielle Umstellungshilfen« der Kassen, diese wollen eine »kostenneutrale Umstellungsphase« ermöglichen.
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