Entweder wir kämpfen oder wir verhungern
Massive Lohnsenkung, neue Proteste: Gewerkschafterinnen aus Athen berichteten über ihre Erfahrungen
nd: Welche Eindrücke nehmen Sie nach Athen mit zurück?
Alkistis Tsolakou: Wir haben ein starkes Interesse an der Lage in Griechenland festgestellt. Die Probleme für die abhängig Beschäftigten in Deutschland scheinen ähnlich zu sein, wenn auch noch »light«. Manche Zuhörer waren über die Zustände in Griechenland regelrecht schockiert.
Worüber genau?
Tsolakou: Löhne und Renten wurden massiv gesenkt, die Arbeitslosigkeit liegt bei 28 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 56 Prozent. Viele meiner Freunde sind auf der Suche nach Arbeit ausgewandert. Millionen verarmen. In Athen fallen immer mehr Obdachlose auf. Sie suchen in Mülltonnen nach Lebensmitteln. Die Zahl der Selbstmorde steigt.
Argiro Baduva: Ich hatte als Lehrerin früher 1200 Euro monatlich, jetzt sind es 800 Euro. Es ist schwierig, damit eigenständig zu überleben. Viele Schüler sitzen vor lauter Hunger unkonzentriert im Unterricht. Durch die Schließung von 2000 Schulen sind viele Kinder im ländlichen Raum effektiv vom Unterricht abgehängt.
Sehen die Menschen in Griechenland überhaupt Hoffnung?
Tsolakou: Die Leute verstehen zunehmend, dass die bisherige Politik ihre Probleme nicht löst. Die von der Troika diktierten Kürzungen haben die Banken bedient und die Staatsverschuldung explodieren lassen. Ausdruck einer Veränderung sind die 27 Prozent Stimmenanteil für die Linkspartei Syriza bei den Wahlen im Juni - sehr viel für eine Partei links von der Sozialdemokratie.
Baduva: Entweder erkämpfen wir eine bessere Zukunft oder wir verhungern. Wir hatten eindrucksvolle Generalstreiks und Demonstrationen mit Millionen Menschen. Die meisten waren erstmals in ihrem Leben bei solchen Aktionen dabei. Das reicht aber nicht. In Syriza suchen die Menschen die Alternative.
Was macht denn Syriza so attraktiv?
Baduva: Die Forderung nach Neuverhandlung der Schulden, die erst gezahlt werden können, wenn die Wirtschaft wächst und nicht in der tiefsten Rezession aller Zeiten. Nur Syriza fordert einen Stopp der Steuerprivilegien für Superreiche, die bisher keinen Cent gezahlt haben. Die Guthaben reicher Griechen auf Schweizer Banken müssen herangezogen werden.
Warum hat Syriza und nicht die Kommunistische Partei KKE diesen Massenzustrom?
Tsolakou: Die KKE zeigt keine konkrete Alternative auf und hängt seit Jahren am selben Programm. Es reicht aber nicht aus, die Überlegenheit des Kommunismus zu propagieren, ohne im Dialog flexibel auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen. Der kommunistische Gewerkschaftsflügel PAME kapselt sich mit separaten Demos und Kundgebungen ab. Das ist schlecht für eine einheitliche Bewegung. Syriza hat der KKE eine gemeinsame Wahlplattform angeboten. Mit einer Einheitsliste aller linken Parteien wäre eine linke Parlamentsmehrheit möglich gewesen.
Wie geht es nun weiter?
Tsolakou: Die neue Dreiparteienregierung wird wohl nicht lange halten. Sie hat viel versprochen und wenig gehalten. Die Lage spitzt sich weiter zu. Im Herbst sind neue Proteste und Streiks zu erwarten.
Die griechische Linke ist uneins über die Frage, ob das Land im Euro-Raum bleiben soll.
Tsolakou: Ich weiß nicht, was besser wäre, aber den Menschen ist es letztlich egal, mit welcher Währung sie verarmen. Wir brauchen ein Europa der Solidarität und kein Europa der Märkte und des harten Krisendiktats.
Was ist Ihre Botschaft an die europäische Gewerkschaftsbewegung?
Tsolakou: Alle abhängig Beschäftigten in Europa sitzen im gleichen Boot. Wir brauchen mehr Vernetzung, Informationsaustausch und gemeinsame europaweite Aktionen. Wenn wir etwa gleichzeitig vor den Parlamenten und Regierungssitzen demonstrieren, können wir etwas verändern. Griechenland ist nur ein Versuchskaninchen. Es trifft über kurz oder lang alle. Die deutschen Gewerkschaften sollten sich stärker gegen die Regierung Merkel engagieren, denn die Bundeskanzlerin ist europaweit eine Haupttriebkraft dieser Politik.
Und jetzt will die Regierung Samaras die von der Troika geforderten Privatisierungen vorantreiben.
Baduva: Ich verstehe nicht, wie das helfen soll. Griechenland bettelt um Geld und kann nur dürftige Privatisierungserlöse erzielen. Wenn das private Kapital die Strom- und Wasserversorgung kontrolliert, werden die Preise steigen. Der Staat hat über die Jahre immer weniger Geld in die Krankenhäuser gesteckt. Auch damit soll letztlich ein Zwang in Richtung Privatisierung geschaffen werden.
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