Nur die Krise zählt

Ein Stimmungsbild aus den Niederlanden vor der Parlamentswahl

  • Tobias Müller, Amsterdam
  • Lesedauer: 5 Min.

Hinter dem Strand beginnt die Kampagne. Ein paar hundert Meter nur zwischen dem letzten Sandkorn und dem ersten Slogan. »Jetzt SP», verkünden die prallroten Tomaten der Socialistische Partij. »Niederlande stärker und sozialer«, propagiert der dynamische Spitzenkandidat der Sozialdemokraten. Den angeschlagenen Christdemokraten fällt nur noch ihr Mantra »Zusammen« ein. Und dann sind da die markigen Worte der VVD, der wirtschaftsliberalen Partei des amtierenden Premierministers Mark Rutte: »Ärmel hochkrempeln oder Hand aufhalten?«

Ein kalter Wind zieht durch die Spätsommerfrische in Egmond aan Zee, einem Touristendorf an der nordholländischen Küste bei Alkmaar. Man spürt, es könnten zugige Zeiten bevorstehen. Es steht einiges auf dem Spiel, wenn die Niederlande am kommenden Mittwoch ein neues Parlament wählen. Es ist das fünfte Mal seit 2002, und seitdem zogen in dem einst so beschaulichen Land, bekannt für seine Konsenskultur, so einige politische Stürme auf. Die Fortuynsche Rebellion mit dem Aufbegehren gegen die etablierte Politik in Den Haag, eine latent überhitzte Zuwanderungsdebatte, die aggressive Forderung nach Assimilation, zwei Morde, Rechtspopulisten verschiedener Zuschnitte, die alle verblassten hinter der rabiaten Rhetorik Geert Wilders'. Und all das ist jetzt Geschichte - oder zumindest vorübergehend entsorgt auf ein Abstellgleis des Diskurses. Denn seit einiger Zeit geht es zwischen Groningen und Maastricht nur noch um eins: die Krise, und wie man dort wieder herauskommt. Auch und gerade in diesem Wahlkampf.

Er begann mit einem Paukenschlag. Arnheim, direkt an der Grenze zu Deutschland gelegen, Mitte August. Das Freilichtmuseum wird zur Kulisse der Auftaktkundgebung der Sozialisten. 2500 Menschen sind gekommen, die SP, die vor 40 Jahren aus einer Gruppe maoistischer Dissidenten der Kommunistischen Partei entstanden ist, liegt schon seit Jahresbeginn mit an der Spitze der Umfragen. Weiß-rote Ballons, der soulige Gassenhauer Doe Mee met de SP (Mach mit bei der SP) ertönt, die Begeisterung ist beseelt wie auf einem Kirchentag, nur dass es statt heiligem Brot Tomaten gibt, das Symbol der SP. Tomaten als Buttons, auf Postern und Broschüren, Tomateneis.

Dann erscheint der Messias, könnte man meinen. Emile Roemer, Ex-Lehrer, Hoffnungs- und Sympathieträger, unter dem die SP zum großen Wurf ausholen will: dem besten Ergebnis ihrer Geschichte. Roemer setzt ein Ausrufungszeichen und was für eins: »sozialer oder liberaler», das Land muss sich entscheiden, und alle, die das Erste wollen, lädt er ein zu einer »sozialen Allianz«. Und dann vermisst Roemer die politischen Koordinaten neu: »Die Wahrheit«, sagt er, »liegt nicht länger in der Mitte. Die Wahrheit liegt bei uns.« Euphorie im Publikum, in den meisten Umfragen liegt die SP auf dem ersten Platz.

Wenn jemand der Krise die Stirn bietet, dann die SP - von dieser Einschätzung profitiert die Partei. Roemer ist der Wecker, der das Land aus dem sommerlichen Tiefschlaf reißt. Und dann zeigt er auch noch im Gespräch mit dem »Financieel Dagblad« der EU-Kommission den Mittelfinger. »Idiotisch« nennt er Bußgelder für Etatdefizite, »ohne die Umstände zu berücksichtigen.« Aufruhr in der Medienlandschaft, und auch die internationale Presse ahnt: Da braut sich was zusammen im Polder. Sozialisten? 2012? Und sollte dieser Roemer gar Premier werden?

Rotterdam, eine Woche später. Als letzter Spitzenkandidat steigt der Premier in die Kampagne ein. Und wie: »Mit sozialistischer Politik Griechenland hinterher», so verwirft Mark Rutte das Investitionsprogramm des selbst ernannten »Kaufkraftchampions«, der SP. Die VVD ist dagegen überzeugt, die Krise ließe sich schon in die Knie sparen, wenn man das nur entschlossen genug tue. Also: »Nicht aufschieben, sondern anpacken«, so ihr offizielles Motto. 24 Milliarden will man einsparen in Bereichen wie soziale Sicherheit, Gesundheit und Entwicklungshilfe. Auch Rutte mahnt eine Entscheidung an: »Wählen Sie nicht den Pessimismus der Sozialisten, wählen Sie Optimismus».

Am selben Wochenende in der gleichen Stadt, aber auf einer anderen Bühne. Im Ahoy, einem der größten Eventzentren des Landes, hat die Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit) das Publikum mit niederländischen Fähnchen ausgestattet. Tatsächlich wedeln die Gäste entrückt, für die Showband, für die Kandidaten, die einer nach dem anderen vorgestellt werden, und schließlich für den Chef, der so gebräunt das Podium betritt, dass er sich eigentlich selbst an der Grenze anhalten müsste. Geert Wilders, begleitet von seinem akustischen Markenzeichen »Eye of the Tiger«, und wie immer folgt der rhetorische Hardrock den bombastischen Akkorden. Der Feind, das ist das Neue in dieser Kampagne, sitzt in Brüssel. Der »europäische Superstaat«, der die Niederlande zu einer unbedeutenden Provinz degradiere. Die Lösung liegt auf der Hand, wie das bei Wilders so ist: Raus aus der Eurozone, raus aus der EU. Egal ob Wilders, Rutte, Roemer oder die anderen Kandidaten: Brüssel ist ein ständiger Bezugspunkt in diesem Wahlkampf. Die SP kritisiert den »neoliberalen Geist« der EU und die »Unterminierung von Arbeitsrechten», neben den nationalen Befugnissen, die abgetreten würden. Die PVV schreit schon seit Monaten »Kein Cent für Griechenland« und auch Mark Rutte lässt, eine Woche vor der Wahl, in einer Debatte der Spitzenkandidaten in Amsterdam, diesen Satz fallen: Ein griechischer Austritt aus der Eurozone könne unvermeidlich sein, und mehr Geld gebe es nicht für Athen.

Vielleicht muss man zurückschauen, nach Den Haag, auf die Zeit Ende April, um die Vehemenz einordnen zu können, die das Thema Haushaltsdisziplin mit der europäischen Krise verbindet: die Rechtsregierung Rutte, war nach nur anderthalb Jahren gescheitert, weil sie sich mit ihrer Mehrheitsbeschafferin, Wilders' PVV, nicht über weitere Sparmaßnahmen einigen konnte. Die ersten Debatten im Parlament verliefen dramatisch. In aller Eile stellten die Koalitionäre, Ruttes marktliberale VVD und die Christdemokraten, mit einigen linksliberalen Adjutanten einen schnittigen Etat zusammen. Im Nacken saß ihnen die Angst: vor einer Buße seitens der EU-Kommission, höheren Anleihezinsen und einer Abstufung des Landes durch die Ratingagenturen. Ein Riss läuft seither durch das Parteienspektrum Den Haags: Hier die, die Brüsseler Haushaltsvorgaben als verbindlich ansehen. Dort SP, aber auch die Partij van de Arbeid (PvdA), die lieber in sozial verträglichem Umfang den Etat sanieren wollen.

Auf der Zielgeraden sind sich die linken Kontrahenten dann doch noch erheblich in die Quere gekommen: Es war nach einer der zahlreichen TV-Debatten in Hilversum, dass die erledigt geglaubten Sozialdemokraten auf einmal zum Endspurt ansetzten. Der neue PvdA-Chef Diederik Samsom, ein junger, ehemaliger Umweltaktivist, stach Emile Roemer glatt aus, und schwimmt seither auf einer Welle des Erfolgs. Prognosen sehen beide Parteien gleichauf. Und für Mark Rutte ist diese Perspektive vermutlich nicht weniger als ein Anlass zum - Optimismus.

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