»Ja, ich kann es schaffen«

Kubas Alphabetisierungsprogramm setzt Maßstäbe und ist ein Exportschlager

  • Rainer Schultz
  • Lesedauer: 4 Min.
Seit 65 Jahren fördert die UNESCO Maßnahmen gegen Analphabetismus. Seit 1966 wird der Weltalphabetisierungstag alljährlich am 8. September begangen. Mit der Revolution wurde Kuba zu einem Vorreiter für das Menschenrecht auf Bildung.

»Es ist ein menschliches Meisterwerk«, berichtet die 61-jährige Pädagogin Susana Morejón sichtlich strahlend von ihrer Alphabetisierungsarbeit in Mexiko und Venezuela. Sie hat als Beraterin für das kubanische Bildungsministerium MINED die einleitende Phasen des Alphabetisierungsprogramms »Yo sí puedo« (Ja, ich kann es schaffen) in verschiedenen Bundesstaaten der beiden Länder begleitet. Seit der Erfindung des Programms im Jahr 2001 haben weltweit etwa 3,5 Millionen Menschen in 31 Ländern, insbesondere in Lateinamerika, aber auch Afrika, Australien und Kanada damit erfolgreich gelernt. Die jüngsten Meldungen stammen aus Bolivien, wo nach Informationen des Vize-Ministers für Alternative Bildung, Noel Aguirre, seit Beginn des Programms vor sechs Jahren 800 000 Menschen zur lesenden Bevölkerung gezählt werden können.

Das Schönste sei es, zu sehen, wenn ältere Menschen, die meist mit Scheu und Scham einen Kurs beginnen, am Ende einen eigenen Brief mit ihrem Namen schreiben können. »Dann weißt Du es hat sich gelohnt«, sagt die energische Frau Morejón, die als Schülerin selber in der großen kubanischen Alphabetisierungskampagne von 1961 einer Bauernfamilie das Lesen und Schreiben beigebracht hat. In jenem Jahr zogen fast 300 000 Kubaner, darunter 100 000 junge Schüler ins Land um ihre Mitmenschen zu unterrichten. Damals wurde auf der gesamten Insel mobilisiert, und die jungen Lehrer wohnten oft wochenlang bei den Familien auf dem Land, denen sie beim Licht chinesischer Öllampen am Abend nach gemeinsamer Feldarbeit die rudimentären Kenntnisse vermittelten. »Auf diese Weise haben die beteiligten Städter fast mehr gelernt als umgekehrt«, meint der Postbote Augustin Sanz, der bis heute noch mit seiner damaligen Analphabeten-Familie aus den östlichen Hochebenen der Insel in Briefkontakt steht.

Fidel Castro hatte ein Jahr zuvor bei der UNO in New York verkündet, dass Kuba das erste Land des Kontinents ohne Analphabetismus würde. Zwar verfügte die Insel über einige sehr moderne Privatschulen in Havanna, doch vor allem auf dem Land waren Analphabetenrate und Schulschwänzen - während der Erntezeiten bei 50 Prozent. Mit einer massiven Kampagne, die alle Bevölkerungsschichten bewegte, gelang es dann tatsächlich innerhalb eines Jahres, die Analphabetenquote von 24 Prozent auf vier Prozent zu senken, wie die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) damals bestätigte. Kuba gilt seither als Bildungsbeispiel und frei vom Analphabetentum.

Nach der Unabhängigkeit Angolas 1975 und der einsetzenden Zusammenarbeit wurden erstmals auch kubanische Pädagogen dorthin entsandt, erinnert sich Nancy Jiménez, die damals dabei half, das postkoloniale Bildungswesen mit aufzubauen. Die 78-jährige Sozialwissenschaftlerin, Leutnant der Armee, hat ein Buch über die Frauen geschrieben, die an den internationalistischen Missionen beteiligt waren. Weil drei Jahrzehnte Bürgerkrieg jedoch viele Fortschritte zunichte machten, ist das Interesse an kubanischer Bildungsarbeit in Angola wieder gewachsen. Bis 2017 sollen in dem erdölreichen Land acht Millionen Menschen alphabetisiert werden, so José Ricardo del Real, der Chef der Abteilung Erwachsenenbildung des lateinamerikanischen Pädagogikinstituts in Havanna, IPLAC, aus dem das »Yo sí puedo«-Programm« entwuchs. Die Kosten schätzt del Real auf fünf Dollar pro Person, je nach dem wie intensiv die Kurse den lokalen Bedürfnissen angepasst werden müssen. Die Einnahmen kommen dem devisenbedürftigen Kuba zugute. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Die Historikerin Christine Hatzky konnte in ihrem Buch »Kubaner in Angola« über die Zeit 1975-91 aufzeigen, dass für das kubanische Lehrpersonal auch in Devisen gezahlt wurde und zwar gestaffelt nach Qualifikation, im Durchschnitt etwa 750 Dollar pro Person und Monat. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einem »ökonomischen Pragmatismus«, der dem Internationalismus zu Grunde lag.

Insgesamt haben mehr als 26 000 kubanische Pädagogen in internationalistischen Missionen gearbeitet, die meisten von ihnen in Angola (nach 1975) und Nicaragua (nach 1979). Zwanzig Jahre später hatte Haitis Regierung um Hilfe in Havanna bei der Bildungsarbeit gebeten. Aus einem experimentellen Programm, das damals noch aus Radiosendungen bestand, wurde die spätere Methode »Yo, sí puedo« entwickelt. Sie basiert auf einem Fernsehkurs, der die Buchstaben mit Zahlen assoziiert, die die meisten Menschen bereits kennen. Dadurch lässt sich das Material leicht an andere Sprachen anpassen. »Wir haben auch dazu gelernt«, gesteht Luisa Campusano, Direktorin des nationalen Alphabetisierungsmuseums in Havanna ein: Inzwischen würden die Lehreinheiten mit lokalen Schauspielern und Lehrern gefilmt. »Dadurch wird der Stoff viel leichter von den Schülern angenommen und verstanden.« Je nach Intensität des Kurses, können in zwei bis drei Monaten die rudimentären Kenntnisse dadurch vermittelt werden. Wichtig sei aber vor allem, daran anzuknüpfen und eine Umwelt zu schaffen, in der das Lernen geschätzt und gefördert wird, so die afro-kubanische Pädagogin. Bei geschätzten 775 Millionen Analphabeten weltweit bleibt die Herausforderung enorm. Die kubanische Methode »Yo, sí puedo« ist dabei nur eine unter vielen. Gemessen an den Kosten und Ergebnissen jedoch ist sie eine, die Hoffnung gibt. Mit gutem Grund hat ihr die UNESCO 2006 den Rey Sejong-Preis für Alphabetisierungsprojekte verliehen.

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