Stolperfallen kosten die Stadt Millionen
Schmerzensgeld nach Gehwegunfall in Berlin
Diese höchstrichterliche Entscheidung kommt die Stadt teuer zu stehen. Zum einen wurde der klagenden Frau ein Schadenersatz in Höhe von rund 3474 Euro zugesprochen. Zum anderen würde ein Reparaturprogramm für die schlimmsten Stolperfallen die Stadt Millionen Euro kosten.
Die Vorgeschichte: Im September 2009 überquerte eine Rentnerin (Jahrgang 1939) von der Arnold-Zweig-Straße kommend die Neumannstraße in Berlin-Pankow. Seit vielen Jahren hat der Bezirk Pankow dort nichts ausgebessert. Die Frau blieb an einem 2,5 Zentimeter tiefen Loch hängen und verletzte sich beim Sturz. Sie verstauchte sich die Hand, verlor vier Zähne und erlitt weitere Verletzungen im Gesicht. Die Frau klagte auf Schadenersatz und Schmerzensgeld.
Das Urteil: Sowohl vor dem Landgericht als nun auch vor dem Bundesgerichtshof verlor Berlin den Prozess. Die Stadt habe über Jahre ihre Verkehrssicherungspflicht vernachlässigt, so der BGH. Hier liege eine »Amts-pflichtsverletzung« vor.
Das Land hatte argumentiert, der Weg sei so marode, die Fußgängerin hätte den desolaten Zustand erkennen müssen. Das ließen die Richter nicht gelten.
Der BGH urteilte, dass die jahrelange Vernachlässigung der Gehwege für die Bürger nicht hinnehmbar sei. Es sei weder die Schuld der Seniorin gewesen, dass sie wegen der maroden Betonplatten gestürzt sei, noch könne sich das Land mit Hinweis auf knappe Finanzen aus der Pflicht stehlen. Dadurch werde die Amtspflicht »aufs Gröblichste« verletzt. Der Klägerin stehe daher ein Schmerzensgeld zu (BGH-Urteil, Az. III ZR 240/11).
Rechtsanwalt Dr. Thomas Heinrichs aus Berlin, der die Klägerin vertrat, geht noch einmal näher auf die BGH-Entscheidung ein:
Wegen der schneereichen Winter in den letzten zwei Jahren war die Frage, wer haftet, wenn es auf glatten Straßen zu Unfällen kommt, aktuell. Aber nicht nur im Winter müssen Gehwege und Straßen in einem Zustand gehalten werden, der ihre gefahrlose Benutzung ermöglicht.
Generell gilt, dass Länder, Städte und Gemeinden die von ihnen eingerichteten öffentlichen Straßen und Wege einschließlich der Fahrrad- und Fußgängerwege in einem Zustand halten müssen, der ihre gefahrlose Benutzung erlaubt.
Kommt es zu Unfällen, die auf Mängel der Straßenoberfläche wie starker Verschmutzung, Löcher oder Unebenheiten beruhen, so stellt sich die Frage, ob die zuständige Behörde für den dem Bürger hierdurch entstandenen Schaden im Wege der Amtshaftung aufkommen muss und unter Umständen auch noch ein Schmerzensgeld zu zahlen hat.
Grundsätzlich gilt, dass, wer eine Straße benutzt, sein Verhalten danach richten muss, in welchem Zustand die Straße ist. Ein achtsames und den Gegebenheiten angemessenes Verhalten des Verkehrsteilnehmers kann verlangt werden.
Wenn jedoch trotz achtsamen Verhaltens des Verkehrsteilnehmers ein Unfall aufgrund von Mängeln der Straße nicht zu vermeiden ist, haften Land, Stadt oder Gemeinde.
So darf beispielsweise der Höhenunterschied zwischen Fahrbahn und Seitenstreifen nicht mehr als 15 Zentimeter betragen. Zu hoch ist auch eine über elf Zentimeter hohe Bordsteinkante am Rande einer Parkbucht. Eine Spurrille von sieben Zentimetern Tiefe muss beseitigt werden. Bei Gehwegen hat die Rechtsprechung bislang das Vorhandensein von Unebenheiten unter zwei Zentimetern nicht als Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflichten betrachtet.
Auch hatten Gerichte geurteilt, dass, wenn Schäden deutlich erkennbar seien - zum Beispiel ging es um einen äußerst schadhaften Radweg - kein Haftungsfall vorliegt, weil der Verkehrsteilnehmer selber hätte erkennen müssen, dass der Weg nicht mehr sicher befahrbar ist.
Dagegen hat der Bundesgerichtshof nunmehr in einem aktuellen Urteil entschieden, dass, sofern es das Straßenrecht, wie beispielsweise in Berlin, anordnet, dass die Behörden bei Schäden an der Straße »für eine alsbaldige Wiederherstellung« zu sorgen haben, alleine die langfristige Hinnahme von Straßenschäden bereits eine Amtshaftungspflicht begründen kann, wenn es zu einem Unfall kommt.
Kommt hinzu, dass es nicht möglich ist, der Gefahrenstelle auszuweichen, weil, wie im entschiedenen Fall, der Straßenübergang im Ganzen in einem desolaten Zustand war, so kann sich die Behörde zu ihrer Entschuldigung nicht darauf berufen, dass der Verkehrsteilnehmer dies selber hätte erkennen müssen
Die Behörden werden daher nicht umhinkommen, ihre Straßen und Wege in Zukunft besser instand zu halten. Sollten Bürger dennoch aufgrund von Straßenschäden einen Unfall erleiden, empfiehlt es sich, den Amtshaftungsanspruch prüfen zu lassen.
OLG Thüringen entschied anders
Wenn jemand auf Bürgersteigen, Haustreppen oder Fluren stolpert und verunglückt, stellt sich sofort die Frage, ob Grundstückseigentümer oder Kommune ihre Verkehrssicherungspflicht verletzt haben.
Darum ging es auch in einem vor dem Oberlandesgericht Thüringen verhandelten Fall (Az. 4 U 1040/10). Eine Frau war auf einem Gehweg gestürzt. Hier hatten sich zwei Gehwegplatten gelockert. Sie waren später von Unbekannten entfernt worden, so dass eine Vertiefung entstanden war. Darüber stolperte die Passantin und verletzte sich beim Sturz.
Das OLG ging von dem Grundsatz aus: Fußgänger müssen gründlich auf den Gehweg achten. Das Gericht stellte sich auf die Seite des Verkehrssicherungspflichtigen. Man könne von niemandem erwarten, dass er laufend Kontrollen durchführt. Vom Verkehrssicherungspflichtigen sei nicht mehr als das Zumutbare zu erwarten. Es liege an der Passantin selbst, auf ihren Weg zu achten.
»Grundsätzlich muss der Straßenbenutzer sich ... den gegebenen Straßenverhältnissen anpassen und die Straße so hinnehmen, wie sie sich ihm erkennbar darbietet«, hieß es in der Urteilsbegründung.
Im konkreten Fall sei, so das Gericht, noch erschwerend hinzugekommen, dass das Unfallopfer auch einen anderen, besser ausgeleuchteten Weg hätte benutzen können.
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