Die Kolonie

  • Philip Martin
  • Lesedauer: 2 Min.
Victor Farías: Die Nazis in Chile. Aus dem Span. v. Kerstin Claussen. Philo Verlag, Berlin/Wien. 350S., br., 34 EUR.
Spätestens seit der Hollywood-Musical-Verfilmung von »Evita« weiß der interessierte Zeitgenosse, der nicht blind einer Zelluloid-Saga glauben will und zu zeitgleich erschienenen Büchern wie etwa zur informativen Evita-Peron-Biografie des Aufbau-Verlages griff, um das Phänomen: Die deutschen Faschisten haben ihre gierigen Hände auch nach Lateinamerika ausgestreckt und dort eine erstaunlich große Zahl von Sympathisanten und Anhängern gefunden. Am Beispiel Chiles zeigt nun erstmals in einer umfangreichen, mit neuen Fakten überraschenden Publikation Victor Farías, wie die deutschen Faschisten in einem lateinamerikanischen Land ihren Einfluss ausweiten konnten, die Elite des Landes infiltrierten sowie schließlich gesuchte NS-Verbrecher nach 1945 dort Unterschupf fanden. Bescheiden nennt Farías sein Werk »einen Beitrag in einer Reihe von neuen Erkenntnissen«; seine Intention sei es, detailliertere und ausführlichere Arbeiten zum Thema zu initiieren. Wenn jene sich an der Methode dieses Autors orientieren, braucht um die historische Forschung nicht gebangt zu werden. Farías will ergründen, was »eine Gesellschaft, die es mit viel Mühe zur Demokratie gebracht hat«, dereinst mit dem »Nationalsozialismus« verband. Da werden die Umtriebe der deutschen Kolonie in Chile, der Auslandsorganisation (AO) der NSDAP wie auch des Vereins für das Deutschtum im Ausland (VDA) unter die Lupe genommen. Da gerät das Ibero-Amerikanische Institut unter Leitung von General Wilhelm Faupel in den Blick; die von diesem in den chilenischen Streitkräften verbreitete Militärzeitschrift hat auch den jungen Offizier Augusto Pinochet geprägt, der nach seinem Putsch gegen den linkssozialistischen Präsidenten Salvador Allende 1973 eine blutige Militärdiktatur installierte. Bereits 1932 war die Nationalsozialistische Partei Chiles von General Francisco Javier Díaz gegründet worden. Farías berichtet über »Rasseuntersuchungen« an chilenischen Kindern im Auftrage des Kaiser-Wilhelm-Instituts und der Deutsch-Ibero-Amerikanischen Ärzteakademie (DIÄA) - ein noch heute in deutschen Wissenschaftskreisen gern verschwiegenes Kapitel. Er durchleuchtet das diplomatische Korps Chiles und stößt auf »eine aggressive antisemitische Identifikation« mit dem NS-Regime in Deutschland. Nicht nur, dass ein chilenischer Konsul vom »göttlichen Feuer« der Bücherverbrennung in Berlin 1933 schrieb. Ein anderer, Generalkonsul im deutsch-besetzten Prag, denunzierte seinen jüdischen Kollegen aus Paraguay und mit ihm 1500 Juden, die über Lateinamerika nach Palästina fliehen wollten - »kein Zweifel, dass Gonzalo Montt Rivas in direkter und systematischer Zusammenarbeit mit dem Sicherheitsdienst (SD) an der Umsetzung des Holocaust beteiligt war«. Farías berichtet über das Spionagenetz der Nazis und die »wohlwollende Haltung« der chilenischen Justiz gegenüber deutschen Agenten. Man erfährt von chilenischen Orden für blutbefleckte deutsche Militärs. Und von vielem anderen mehr... Fazit: ein wichtiges Buch.

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