Marcel Reich-Ranicki: Versuch einer Musil-Vernichtung
Gunnar Decker
Lesedauer: 7 Min.
Im Vorwort seines soeben erschienen Bandes mit Literaturkritik »Sieben Wegbereiter« erklärt der Großkritiker die »Wegbereiter« zu seinen »Wegbegleitern«. Natürlich, Marcel Reich-Ranicki hat sich schon lange einen Platz zwischen Thomas Mann und Kurt Tucholsky reserviert. An Frechheit des Auftritts, in seinen besten Momenten auch an nonkonform- vitalem Zugriff, am Willen zum Streit, hat es Reich-Ranicki nie gefehlt.
Darum liest man die Texte zu Arthur Schnitzler, Thomas Mann, Bert Brecht, Franz Kafka und Alfred Döblin ohne von ihnen überrascht zu werden. Zum einen, weil sie alle schon einmal irgendwo zu lesen waren, zum anderen, weil hier die Reich-Ranicki-Kritikmaschine störungsfrei läuft. Jeden dieser Autoren kann er gerade noch so gelten lassen, zu einer gewissen Sympathie vermag er sich aufzuraffen. So lesen wir über den von Selbstzweifeln geplagten Arthur Schnitzler, dem sein Werk wenig, aber seine Tagebücher viel bedeuteten: »Kurz und gut: ein ungewöhnlich langweiliges Tagebuch.« Der Egomane als Kritiker zeigt sich gern hartherzig. Und bei Thomas Mann bekommen wir wieder etwas über die letzte große Liebe des Mitsiebzigers zu hören: den Kellner Franz. Also alles wie immer: laut, auftrumpfend, schrill. Nur mäßig langweilig, um mit MRR zu sprechen. Immer das Gegenteil von Schnitzlers Bescheidenheit. Nur wer laut poltert, wird gehört. Jedenfalls im Weltbild des MRR. Die stilleren Regionen von Literatur behagen ihm nicht, weil man ihn da ja nicht hört. Und darum geht es doch allein. Ums Loben und Verdammen. Ich! Ich! Ich! Literaturkritik als Charakterfalle.
Ein Text jedoch fällt aus dem Rahmen. Der einzige des Buches, der noch nicht veröffentlicht worden ist. Und der es wohl besser auch geblieben wäre: unveröffentlicht. Aber mit solchen Texten - so die fatale Medienlogik - rückt man ins Zentrum des Geschehens. Warum der »Spiegel« unter der Überschrift »Musils Fiasko« einen Auszug aus Reich-Ranickis fünfzigseitigem Pamphlet druckte, wird sein Geheimnis bleiben. Vielleicht bereitete es dem Hamburger Nachrichtenmagazin ein heimlichen Vergnügen, seinen Beitrag zur Selbstdemontage des Kritikerpapstes zu leisten. Der Papst ist nackt?
Wenn es wenigstens nur Unwissenheit, bloßes Unverständnis des Kritikers gegenüber dem Werk wäre! Robert Musil ist Marcel Reich-Ranicki unsympathisch. Er mag ihn nicht, weil er ihn nicht versteht und sich darum ostentativ langweilt. Das hat Folgen. Reich-Ranicki begründet nun seine Langeweile - und das wird peinlich. Denn Robert Musil ist nicht irgendein Debütant, den man in Weinlaune mal so vom Tisch wischt, sondern er ist einer der bedeutendsten und schwierigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Wenn Reich-Ranicki keine Ahnung hat von Robert Musil, soll das Musil büßen. Hier offenbart sich der Absolutismus eines Kritikers als das, was er im Kern ist: Willkür und Anmaßung. Die Literaturkritik im Zeitalter nach dem Fernsehbarden MRR wird die Demut gegenüber dem Werk erst wieder lernen müssen. An der Lernfähigkeit darf man allerdings seine Zweifel haben, denn Arroganz zeugt Ignoranz - und inmitten dieser sieht sich der Leser heute überall allein gelassen. Beherrscht wird der Literaturbetrieb, wie Robert Musil im »Mann ohne Eigenschaften« vorausahnte, von Leuten, die täglich nach einem neuen »genialen Rennpferd« Ausschau halten, dem »Champion der Saison«.
Es erregt, wie Reich-Ranicki unter der Überschrift »Der Zusammenbruch eines großen Erzählers« mit simpelsten Mitteln Stimmung macht. Von einer »verdrießlichen Lektüre« weiß der Großkritiker zu berichten. Das Urteil steht schon vorher fest, es wird nur noch bebildert: »Musil mußte scheitern.«. Weil MRR es so will. Sein Fazit: Musil ist »seinem Talent nicht gewachsen«. Immerhin, ganz ohne Talent war er nicht.
Schauen wir uns einmal an, worin dieses Talent für Reich-Ranicki besteht und worin er Musils Scheitern vermutet - und was uns dies über die Größe (Kleinheit) des Kritikers Reich-Ranicki und seines Wahl-Feindes Robert Musil sagt. Und verraten wir einmal in der Manier von Reich-Ranicki gleich das Fazit unserer Verstehens-Bemühungen: MRR verkörpert den sich als Kritik missverstehenden Auftritt des Massengeschmacks, mit all seinen Ressentiments und seiner bigotten Unterhaltungsseligkeit. Denn im Grunde wirft Reich-Ranicki Musil ja vor, er mache die Ansätze jeder schön erzählten Geschichte jedesmal mit zu viel Intellekt selbst wieder zunichte. Wo er nichts mehr zu erzählen habe, verfalle er in »Reflexions-Balladen«. Mit anderen Worten: Musil langweilt Reich-Ranicki mit Klugheit. Und: er ist so unangenehm modern. Keine großen Emotionen, sondern skeptische Kühle. Nietzsches Pathos der Distanz blickt Musil aus allen Knopflöchern. Das mag MRR nicht. Ein Roman als intellektuelle Versuchsanordnung, da schüttelt sich der Großkritiker mit Grausen. Musils Werk liegt jenseits der Grenze von MRRs Denken, die die Grenze seiner Welt ist. Man hört ihn geradezu in jedem Satz stöhnen: Ein »Mann ohne Eigenschaften«, also bitte! Antworten wir ihm mit Franz Blei: »Der Essayist, der "Mann ohne Eigenschaften", hat neben vielen Eigenschaften, die ihn auszeichnen, auch diese, daß er mit der strukturellen Begrenztheit des sprachlichen Ausdrucks vertraut und darum auf höchste sprachliche Präzision eingestellt ist - was zu Komplikationen führt, die ihn für die geläufige Welt, die auch die beiläufige ist, eben zu einem Manne ohne Eigenschaften macht.« MRR hat sich gerade als Repräsentant dieser beiläufigen Welt zu erkennen gegeben.
Aber warum dieser starke Affekt gerade gegen Musil? Weil sich am Gegenstand Musil die ganze Hilflosigkeit im Urteil des Kritikers MRR beweist. Seine orthodoxen Mittel versagen. Musil promovierte 1908 an der Berliner Universität zum Doktor der Philosophie. Titel der Arbeit: »Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs«. Dies Thema durchzieht auch den »Mann ohne Eigenschaften«. Musil universalisiert die Relativitätsproblematik. Ganze Staaten und Wertesysteme werden von der großen Relativierung erfasst. Auch die Substanz des Menschen verschwindet, er wird zur Hypothese seiner selbst, unter das Machsche Verdikt der »Denkökonomie« gestellt. Und wie reagiert MRR auf diese denkerische und stilistische Herausforderung? Er schlägt auf Musil los wie einst Lenin auf Mach und Avenarius in »Materialismus und Empiriokritismus«, wo es vor -ismen nur so wimmelt. Schlimmster Vorwurf: »Solipsismus«! Und auch bei MRR findet er sich, der Vorwurf des »Solipsismus« (Seite 199). Wie apart. Erstaunlich, dass es gerade ein orthodoxer Anti-Modernist war, der im Westen - mit Georg Lukács im Gepäck - als Kunstrichter Karriere machte.
Der Kritiker als Richter über Bücher aber ist ein autoritäres Missverständnis. Ein Kritiker benötigt als erstes Respekt vor dem Werk und seinem Autor, zweitens die Fähigkeit, sich auf die jeweilige Besonderheit eines Werkes einzulassen und nicht alles an gleichen festzementierten Maßstäben zu messen, was man auch intellektuelle Einfühlung nennen kann. Beides besitzt MRR nicht, wie er auf diesen fünfzig Seiten eindrucksvoll beweist.
Robert Musils hielt am 16. Januar 1927 eine Gedächtnis-Rede auf Rilke. Darin spricht er auch von einer »eingefleischte(n) Erziehung zum Falschesten« gegen die man »Selbstbesinnung und Selbstentdeckung« stellen müsse. »Die Selbstbesinnung führt zum Kampf gegen die Lieblinge der Trägheit und Oberflächlichkeit.« Musil richtet seine Worte an die Akademie der Dichtung mit ihrem Präsidenten Ludwig Fulda: »Ich möchte nichts Bitteres wider Ludwig Fulda sagen. Er hat Zeit seines Lebens die deutsche Sprache und den menschlichen Vorzug der Gedankenfreiheit mißbraucht; aber er wußte es nicht. Er war durch 25 Jahre so verläßlich wie ein Thermometer, daß man von einer Dichtung ohne viele Worte zu sagen konnte: sie ist wie Fulda. Vielleicht versteht man das heute noch.« Ja, man versteht es noch. Ist Marcel Reich-Ranicki der Ludwig Fulda unserer Literaturkritik?
»"Der Mann ohne Eigenschaften" war mißlungen und Musil tatsächlich ein ganz gescheiterter Mann.« Aber Reich-Ranicki kann Musil noch so sehr als Autor für null und nichtig erklären; diesen Kampf gewinnt er nicht. Denn Musil ist natürlich längst ein Klassiker der Moderne, wenn auch nicht von MRRs Gnaden. Wir besichtigen die verzweifelt-komische Selbstdemontage eines zeternden alten Mannes, die fast schon wieder Mitleid erregt. Musil beschäftigte der »Mann ohne Eigenschaften« fast sein halbes Leben lang. Als dieser aristokratische Mann 1942 völlig verarmt und halb vergessen im Schweizer Exil starb, arbeitete er immer noch daran. Ein Jahrhundertwerk, auch und gerade in seinem fragmentarischem Ausgang, liegt vor uns. Wollten wir ernsthaft über Musil reden, was erst geschehen kann, wenn wir über MRR schweigen, dann könnten wir uns auch der Frage zuwenden, ob es nicht ein Scheitern auf höherer Ebene gibt, das fruchtbarer ist als aller an Bestseller-Listen und Kontoständen messbare Tages-Erfolg.
Der Roman als Essay behagt MRR nicht, weil das so bei Lukács nicht vorkommt. Also nur für Sie, Herr MRR: Es handelt sich um die Problematik der »Genauigkeit im Bereich der ungenauen Dinge«! - Welche ungenauen Dinge?, kenn ich nicht, das langweilt mich, krächzt MRR dazwischen. Ulrich, Musils »Mann ohne Eigenschaften«, könnte ihn aufklären: »Um maßlos zu sein, muß man ganz genau und sachlich sein.« Kein Wunder, dass da keine Liebe ist.
Marcel Reich-Ranicki: Sieben Wegbereiter. Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. DVA. 250Seiten, gebunden, 19,90 EUR.
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