Kriminalhistorischer Nachtrag zum 100. Todestag von Zola
Ralf Klingsieck, Paris
Lesedauer: 5 Min.
Dass mit dem Unfalltod von Emile Zola in der Nacht zum 29. Februar 1902 etwas nicht stimmte, schwante schon vielen Zeitgenossen. Jetzt hat man schwarz auf weiß, was man eigentlich schon immer vermutet hat: Der Schriftsteller ist wahrscheinlich einem Mordanschlag zum Opfer gefallen.
Zum 100. Todestag hat der Journalist Jean Bedel ein Buch »Zola assassiné« (Der ermordete Zola, Editions Flammarion) herausgebracht, das die Summe seiner langjährigen Recherchen darstellt. Der Autor macht einleitend deutlich, wie viel Hass Emile Zola über viele Jahre auf sich gezogen hat. Sein 20-bändiger naturalistischer Romanzyklus Rougon-Macquart, der eine schonungslose Chronik der »Gründerjahre« mit all ihren menschenverachtenden Schattenseiten war, trug ihm den Vorwurf ein, er suhle sich genüsslich in den Niederungen der Gesellschaft, bewerfe sie mit Schmutz und zeichne liebevoll das Porträt ihrer Randfiguren. Wie sehr sich Zola außerhalb seiner Klasse gestellt hatte, bekam er zu spüren, als er für die Aufnahme in die Académie française kandidierte: 19 Mal hintereinander wurde er abgelehnt, bevor er resigniert aufgab.
Doch all das war noch nichts im Vergleich zu dem Hass, der ihm entgegenschlug, als er sich in der Dreyfus-Affäre für den zu Unrecht der Spionage beschuldigten jüdischen Offizier einsetzte, im »Le Figaro« eine Welle des Antisemitismus beklagte und dann am 13. Januar 1897 in der Zeitung »L'Aurore« sein berühmtes Pamphlet »J'accuse« (Ich klage an) veröffentlichte. Für die Anti-Dreyfusards war Zola nun praktisch »zum Abschuss freigegeben«. Körbeweise bekam er hasserfüllte Briefe mit Morddrohungen, die er vor seiner Familie versteckte. Sein Sohn hat sie später gefunden und dem Journalisten Jean Bedel gezeigt.
So ist es nicht verwunderlich, dass die Nachricht, wonach Emile Zola in der Nacht vom 28. zum 29. September 1902 überraschend im Schlaf gestorben war, von vielen Franzosen mit Skepsis aufgenommen wurde. Die Behörden waren sich der politischen Brisanz sehr wohl bewusst, und die Staatsanwaltschaft leitete sofort eine Untersuchung ein. Der damit betraute Untersuchungsrichter Joseph Bourrouillou hatte bereits eine langjährige erfolgreiche Karriere in den Kolonien hinter sich. »Er hatte also reiche Erfahrungen darin, sich den Wünschen der Staatsanwaltschaft unterzuordnen, auch den unausgesprochenen«, schreibt Bedel, »und das bedeutete in diesem Fall ganz offensichtlich, die Untersuchungen nicht auf Fährten abschweifen zu lassen, wo man vielleicht auf Mörder gestoßen wäre«. Der Untersuchungsrichter inspizierte das Schlafzimmer von Zola, fand im Kamin noch glimmende Kohlereste und folgerte, dass der Schriftsteller offenbar durch Rauchgase erstickt war, weil der Schornstein schlecht gezogen hatte. Letzteres hatte Zolas Frau - die über Übelkeit und schwere Kopfschmerzen klagte, was auch auf eine Rauchgasvergiftung hindeutete - schon am Vorabend festgestellt und den Diener gebeten, für den nächsten Tag einen Schornsteinfeger zu bestellen. Nachdem auch noch eine Blutuntersuchung einen tödlich hohen Anteil von Kohlenoxid ergab, stand das Ergebnis nach wenigen Stunden fest: Unfalltod durch Rauchgasvergiftung. Sowohl Zolas Witwe Alexandrine als auch Jeanne, die Geliebte und Mutter seiner Kinder, zogen die offizielle These nicht in Zweifel, um nicht eine neue öffentliche Polemik heraufzubeschwören. Der Fall wurde zu den Akten gelegt. So blieb es ein halbes Jahrhundert.
Erst nach den Gedenkfeierlichkeiten zum 50. Todestag im September 1952, als in der Presse wieder einmal über die seltsamen Umstände jener Todesnacht spekuliert wurde, erreichte ein Leserbrief die Zeitung »Libération«, der alles in Frage stellen sollte. Der pensionierte Apotheker Pierre Hacquin aus der Kleinstadt Tessy-sur-Vire in der Normandie schrieb darin, dass ihm 1928 ein befreundeter Schornsteinfegermeister kurz vor seinem Tode gestanden habe, er sei der Mörder von Zola. Der Journalist Jean Bedel wurde von seiner Redaktion mit einer Untersuchung beauftragt. Er suchte Hacquin auf, der ihm die Worte des Mörders wiederholte: »Es war ganz einfach. Tage vor der Rückkehr von Zola von seinem Landhaus sind wir über ein Gerüst am Nachbarhaus aufs Dach gelangt und haben den Schornstein seines Schlafzimmerkamins mit Gips verschlossen.«
Dass die Familie Zola alle Jahre am letzte Sonntag im September, der 1902 auf den 28. fiel, aus dem Sommerhaus in Médan in die Pariser Wohnung in der Rue de Bruxelles zurückkehrte, war allgemein bekannt. Am Morgen des 29., noch bevor der Tod von Zola bemerkt worden war, schlich sich der Schornsteinfeger wieder aufs Dach und entfernte den Gipspfropf. Dabei fielen einige kleine Brocken in den Schornstein. Der Untersuchungsrichter hat sie Stunden später im Kamin bemerkt, sich aber keine Gedanken gemacht.
Wenige Wochen nach dem Geständnis ist der Mörder durch einen Herzinfarkt gestorben. »Er muss seinen nahen Tod gespürt haben und wollte wohl kurz vorher noch sein Gewissen erleichtern«, schlussfolgerte Hacquin, der dem Journalisten den Namen des Mörders: Henri Buronfosse nannte, ihn aber bat, diesen erst nach seinem eigenen Tod zu veröffentlichen.
Nachdem der Apotheker 1970 gestorben war, hat Bedel über ihn recherchiert und dabei die Überzeugung gewonnen, dass man dessen Worten trauen könne. Doch erst nach seiner Pensionierung vor zwei Jahren konnte Bedel seine Forschungen vertiefen und die Mordthese erhärten. Der Schornsteinfegermeister war ein glühender Antisemit, Anti-Dreyfusard, gehörte verschiedenen rechtsextremen und royalistischen Organisationen an und war zudem verdächtig, ein Polizeispitzel zu sein. Durch seine enge Freundschaft mit Offizieren hatte er einen einträglichen Vertrag über die Reinigung der Schornsteine des Kriegsministeriums. Die Indizien sprechen dafür, das Buronfosse die ausführende Hand eines Komplotts von Anti-Dreyfusards war, die sich nach der Begnadigung des Hauptmanns an Zola rächen wollten. So sieht es auch Prof. Henri Mitterand, Nestor der französischen Zola-Forschung, der das Vorwort zum Buch von Bedel schrieb: »Der Tod von Zola wird eins der Geheimnisse der Geschichte bleiben. Doch die Hypothese, dass es tatsächlich Mord war, hat viel für sich.«
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