Im Getöse der Irakkriegs-Trommeln ist von dem Terror-Netzwerk Al Qaida kaum noch etwas zu hören. Doch unterdessen gibt es viele Anzeichen, dass es neue Schlupfwinkel gefunden hat.
Als die USA-Regierung in Afghanistan wie mit einem Vorschlaghammer auf Al Qaida und die Taliban eindrosch, flogen Splitter des Terroristen-Netzwerks in alle Himmelsrichtungen davon. Ihrer Hauptbasis verlustig gegangen, haben sie in verschiedenen Ländern fruchtbaren Boden gefunden und Wurzeln geschlagen. Zum Teil gingen sie Symbiosen mit örtlichen Islamisten-Gruppen ein, die nur zum Teil vorher mit Al Qaida in Verbindung standen, aber ihr eigenes Netzwerk bereits aufgezogen hatten. Oder sie setzten sich in anderen Nischen fest, in Gebieten, in denen die zuständige Regierung keine oder nur schwache Kontrolle ausübt.
Nun sind sie wieder zum Angriff übergegangen, von Kuweit - wo auf übende US-Marines geschossen wurde - bis zur Küste Jemens, wo nach dem Kriegsschiff »USS Cole« erneut ein »christliches« (so die Erklärung der Verantwortlichen) Schiff, der französische Tanker »Limburg«, attackiert wurde. Allerdings: »Die einzige Attacke, die seit dem 11. September 2001 direkt mit einem Befehl Al Qaidas in Verbindung gebracht werden konnte, war der Selbstmord-Bombenanschlag auf eine Synagoge in Djerba (Tunesien) im vergangenen April«, schreibt die »New York Times«. Der Attentäter hatte drei Stunden vor seiner Tat mit Khalid Sheikh Mohammad telefoniert, der inzwischen Al Qaidas Operationschef sei, sich in Pakistan verbergen soll und der Polizei nur knapp durch die Lappen ging, als sie im September in Karatschi Ramzi Binalshibh verhaftete.
Ein anderes Beispiel für die Ausbreitung Al Qaidas: Irakisch-Kurdistan. Dort übernahmen 30 Al-Qaida-Flüchtlinge - Syrer, Libanesen, Jordanier und Kuweitis - eine bereits existierende islamistische Bewegung namens Jundullah (Heer Gottes) und benannten sie in Ansar ul-Islam (Anhänger des Islam) um. Nach Angaben eines hohen Kurden-Politikers, des PUK-Premierministers Barham Salih, haben sich die 1000 Ansar-Kämpfer nahe der Stadt Halabja mit Minen eingeigelt, an modernen Waffen fehle es ihnen nicht.
Beispiel Bangladesch: Einem Bericht des USA-Nachrichtenmagazins »Time« zufolge landeten Ende Dezember vorigen Jahres über 100 Araber und Afghanen, die ebenfalls zu Al Qaida und den Taliban gehörten, per Schiff aus Karatschi kommend im Hafen von Chittagong, wo sie ein Armeeoffizier in Empfang nahm. Sie schlüpften in der Hauptstadt Dhaka in Koranschulen einer örtlichen Gruppe namens Harkat-i Jihad-i Islami (Bewegung des Islamischen Jihad - HAJI) unter, die 1992 von Teilnehmern des Afghanistan-Kriegs gegründet worden war. Als sie dort am Waffentraining teilnahmen, wurden einige festgenommen, kamen nach wenigen Tagen aber wieder frei. HAJI ist im wesentlichen identisch mit einer weiteren islamistischen Gruppe, der Islami Oikya Jote - und die ist Bestandteil der Koalition von Premierministerin Khaleda Zia. Von Bangladesch sollen Al-Qaida-Führer ins benachbarte Myanmar (Burma) gezogen sein, wo Rebellen der muslimischen Rohingya die Zentralregierung bekämpfen.
In Jemen, wo die Kontrolle des Präsidenten Ali Abdallah Saleh an den wenigen Überlandstraßen oft nicht einmal 100 Meter weit ins Gelände reicht, gewähren quasi-autonome Stämme islamistischen Gruppen Unterschlupf, von denen sich eine »Anhänger Osama bin Ladens« nennt und neulich ungestraft den Präsidenten-Hubschrauber beschoss. Ähnlich könnte es bald im Nordwesten Pakistans aussehen, wo demnächst eine islamistische Allianz die Provinzregierung stellen wird.
Das alles hat manchen zum Nachdenken veranlasst, der anfangs an der auf rein militärische Mittel setzenden USA-Politik gegen »den Terror« nichts auszusetzen hatte. So schrieb der Londoner »Economist« , ein »taktischer Fehler in Tora Bora« habe es der Al-Qaida-Spitze ermöglicht zu entkommen. Und es seien »strategische Irrtümer« gewesen, »Afghanistans internationale Friedensschützer auf Kabul zu beschränken und Pervez Musharraf, Pakistans Militärdiktator, grünes Licht dafür zu geben, das zu unterminieren, was vom parlamentarischen System des Landes noch übrig war«.
Den Kriegsgegnern wirft der »Economist« vor, dass ihre »Liste nützlicher Pflichten« - nämlich »das Palästina- und das Kaschmir-Problem lösen, die Armut in der Welt beenden, Muslimführer in Demokraten verwandeln« - nicht praktikabel sei. Kann schon sein, dass das alles eine Weile braucht. Aber wann soll man damit beginnen, wenn nicht heute? Und wenn es richtig ist, dass sich Al Qaida sozusagen auf lokale Konflikte aufpfropft, ergeben sich auch lokale Lösungsansätze, mit denen man beginnen könnte. Natürlich werden die USA, und eine Reihe westlicher Regierungen einschließlich der deutschen in ihrem Schlepptau, in diesem Prozess nicht umhin können, einige Grundzüge ihrer Nahost-Politik zu überdenken.
Dass es im Nahen Osten keine demokratischen Systeme gibt, in die man Muslimpolitiker einbinden kann, hat ja auch etwas mit der von handfesten Geschäftsinteressen diktierten Politik des Westens zu tun, angebliche Stabilität in diesen Staaten der Volksbeteiligung am Regieren vorzuziehen. Wer hat denn Kuweit mit dem Versprechen »befreit«, dort für demokratische Verhältnisse zu sorgen - und das dann nicht umgesetzt?
Bis zu einem Politikwechsel im Westen ist noch ein langer Weg. Bis dahin muss der Westen wenigstens Druck auf Regierungen ausüben, die heimlich gemeinsame Sache mit islamistischen Terroristen machen oder sie dulden - von General Musharraf bis hin zu Afghanistans Übergangspräsident Karzai, den paradoxerweise die prinzipienlose Politik Washingtons in eine Koalition mit Fundamentalisten getrieben hat. Und wer behauptet denn, dass man mit demokratisch gewählten Regierungen keine Geschäfte machen könne?