Wir wollen keine Zweiklassenmedizin und mit uns wird es sie nicht geben. Was wir aber brauchen und was wir schaffen werden, sind mehr Verantwortung und mehr Wettbewerb im System, eine Stärkung der Prävention und mehr Zusammenarbeit zwischen Kassen, Patienten, Ärzten, Krankenhäusern und Gesundheitszentren. (Gerhard Schröder) - Die hehren Worte des Kanzlers zu den Vorhaben der zweiten Amtsperiode von Rot-Grün unterzieht ND in einer Serie dem Praxistest: Über Zwänge, Nöte und Erfolge eines ostdeutschen Landarztes unter der rot-grünen Gesundheitspolitik.
Ein dunkelgrüner Golf holpert über die ehemalige Panzerstraße hinter Genschmar. Vor einem einsamen Hof mit dem Blick auf die Weite des Oderbruchs hält das Auto. Heraus springt ein Mensch, der die nebelverhangene Erlkönig-Landschaft kurz vor der polnischen Grenze am Oderdeich nicht zu sehen scheint. Dr. Dieter Weinreich knallt mit der Autotür, und fast schon im Gehen reißt er seinen metallicfarbenen Arztkoffer aus dem Fahrzeug. Das Hoftor ist geöffnet, ein paar Hühner rennen hinter dem Bauern in den Stall. Der lässt sich durch die Ankunft des Doktors ebenso wenig beim Füttern stören wie sein Federvieh beim Fressen. Er weiß, dass der Manschnower Landarzt den Weg zu seiner 77-jährigen Diabetes-Patientin durch die Laube, in der Körbe mit Äpfeln und Nüssen stehen, mit verbundenden Augen finden würde.
Beim Betreten des Wohnzimmers von Familie P. verwandelt sich die Bewegungsenergie des Doktors in eine suggestive Kraft. Mit geübten Handgriffen misst er die Zuckerwerte seiner etwas aufgeregten Patientin. Nach einem freundlichen Gespräch, einem aufmerksamen Blick, einem Händedruck und ein paar Fragen nach der Familie, die er selbstverständlich auch gut kennt, verlässt der Mediziner eine beruhigte Patientin. »Es kommt nicht auf die Zeit an«, erklärt Weinreich später. Meistens sieht er Patienten auf den ersten Blick an, welches Problem sie haben. Medizinische Erfahrung und Menschenkenntnis helfen dem 60-Jährigen seit vielen Jahren bei seiner bodenständigen Hellseherei.
Auf vielen Gehöften in Genschmar, Bleyen und Gorgast fühlt sich Dieter Weinreich wie zu Hause. Die Türen stehen ihm offen, denn so manche Patienten sind bettlägerig und könnten den Arzt gar nicht selbst hereinlassen. Als 30-Jähriger kam der Rucksackberliner nach dem Medizinstudium in das Oderbruch. Wie viele seiner Kommilitonen war er Anfang der 70er Jahre verdonnert worden, nach erfolgreichem Studium »aufs Land« zu gehen - für 250 Mark Landzuschlag und 600 Mark Gehalt ohne die Notdienste. Damit folgte er einer Anweisung, mit der man einigen Bundesländern auch heute einen großen Gefallen tun könnte: Im Land Brandenburg gibt es 126 freie Hausarztpraxen. Doch der undemokratische Befehl von damals hätte momentan wohl nur Chancen auf praktischen Erfolg, wenn den jungen Weißkitteln auch gleich ein paar Tausend Euro in die Hand gedrückt würden, mit denen sie erstens dem Vorgänger die Praxis abkaufen und zweitens ihr Honorar etwas aufbessern könnten. Das liegt im Osten bei 78Prozent des Westhonorars. Auch in Bayern oder Westfalen sehen Landärzte in diesen Jahren ihrer Rente entgegen und benötigen Nachfolger. Wer will es dem jungen Mediziner verübeln, dorthin zu gehen, wo mehr Geld im Beutel klingelt? Der Manschnower Landmediziner gibt sein Monatsnetto mit 1300 Euro an und sagt, dass es nicht weniger werden dürfte. Nach Auskunft der Brandenburger Kassenärztlichen Vereinigung (KV) liegt dieser Verdienst knapp unterm Durchschnitt.
Vor mehr als dreißig Jahren gab es in Manschnow ein Landambulatorium, einen großen Gemüsebetrieb, Tier- und Pflanzenproduktion sowie eine Atmosphäre, in der es dank der Initiative einiger Beherzter immerhin gelang, eine Apotheke ins Dorf zu holen. Um die 10000 Seelen umfasste der ärztliche Einzugsbereich damals. Zur Zeit sind es zwischen 3000 und 4000 Menschen. Wenn der Doktor heute der alten Diabetikerin den Arm streichelt, obwohl er eigentlich jeden Tag mit ihr schimpfen müsste, weil er weiß, dass sie sich nicht ihrer Krankheit entsprechend ernährt, dann hat das seine Gründe. Viele der Frauen, die er heute behandelt, haben im Kuhstall oder auf dem Feld schwer schuften müssen, erinnert er sich. Heute aber sind sie nicht selten allein mit ihrer Krankheit oder pflegen jahrelang ihre Männer, die nach einem Schlaganfall auf Hilfe angewiesen sind. Natürlich sei er nicht immer nur nett zu seinen Patienten, sagt der Landarzt, es müssten auch mal ernste Worte fallen. Wenn ein älterer Mensch aber nicht versteht, weshalb er plötzlich eine blaue statt der roten Pille nehmen müsse, sei er auf dessen Seite. Einerseits sollen mit der von Rot-Grün eingeführten Aut-idem-Regelung, laut der der Apotheker das preiswerteste Medikament mit dem vom Arzt verordneten Wirkstoff heraussucht, Kosten gespart werden, andererseits würden Mittel zum Fenster hinaus geworfen, weil Kassen und KV sich nicht rechtzeitig über zu erstattende Beträge für Impfungen einigten.
Beobachtet man Dieter Weinreich, wenn er seiner Parkinson-Patientin geduldig zuredet, zur Kur zu fahren oder dem Schwerstkranken um die Ecke den Katheter spült, um ihm den häufigen Transport in eine Klinik zu ersparen, dann kommt einem die Idee der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, als Reaktion auf die Sparmaßnahmen der Politik die Ärzte zum Dienst nach Vorschrift aufzurufen, wie ein schlechter Witz vor. Dienst nach Vorschrift wäre es, wenn der Katheter-Patient nicht von seinem Hausarzt, sondern einem Urologen behandelt würde. Dienst nach Vorschrift wäre es vielleicht auch, wenn der Manschnower Weinreich am freien Wochenende einfach nicht ans Telefon ginge. Oder wenn er die Sprechstunde am Sonnabend abschaffte. Auch Bürgermeister war der Facharzt für Allgemeinmedizin und Chirotherapie für kurze Zeit, er stand der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Brandenburg als Präsident vor und arbeitet gegenwärtig im Beirat der Kassenärzte für die Seelower Region. Parteipolitisch hat er sich nie einspannen lassen - weder vor noch nach 1989. Damals ging der Landarzt in die Niederlassung und investierte einige hunderttausend Mark in die Einrichtung seiner Praxis, eine andere Wahl gab es nicht. Jedenfalls aus damaliger Sicht. In einigen Jahren ist der Kredit abgezahlt, und der Mann könnte in Rente gehen: Wann immer er Lust hat, mit dem Hund auf den Oderdeich spazieren, die Enkelkinder besuchen, nach Herzenslust Freunde bekochen, den Garten künstlerisch gestalten oder mal ein Mittagsschläfchen machen, wie es ihm eine seiner Patientinnen beim Hausbesuch vorschlägt. Aber vielleicht kann sich der Doktor einen Rückzug aus dem Dorfmittelpunkt selbst nicht so recht vorstellen. Immerhin hat er Jahrzehnte einen großen Teil der Familien in zig Dörfern mit seinem Rat begleitet - und dafür »viel von seinen Patienten zurückbekommen«, sagt er.
Wenn Dieter Weinreich auch mit dem eigenen Image kein Problem hat, so macht er sich doch Sorgen um den Ruf der Ärzteschaft in der Öffentlichkeit. Für ihn sind die Betrüger in der Branche schwarze Schafe, die es in jedem Berufsstand gibt und er plädiert geradezu leidenschaftlich dafür, den Beruf des Landarztes attraktiver zu machen: »Die Leute brauchen uns.« 52 Patienten sind an einem trüben, nebelverhangenen Donnerstag im Dezember in seiner Praxis gewesen. Die eine brauchte Trost, weil ihr Mann in der Nacht verstorben war, der andere nur ein Rezept, der nächste hat eine versorgte Wunde, die man anschauen muss, und der übernächste ist krank vor Sorgen, hat Depressionen oder soziale Ängste. 441 Einwohner waren im August in der Gemeinde Küstriner Vorland (bestehend aus Gorgast, Kietz-Küstrin und Manschnow) arbeitslos, über 50 Menschen mehr als im Jahr zuvor. Fast die Hälfte führt die Statistik des Arbeitsamtes Frankfurt (Oder) als Langzeitarbeitslose. Da kommt nicht nur Fröhlichkeit auf. Weder das Blumenfest, noch das neue Einkaufszentrum oder die vielen Manschnower Vereine sind offenbar geeignet, den Menschen die Furcht vor der Zukunft zu nehmen. Nebst Kirche und Kaufhalle sind alle Vereine auf einer Internet-Seite über das Dorf vollständig aufgezählt, während man einen Hinweis auf den Arzt vergebens sucht.
Doktor Weinreich fängt seine Patienten auf so gut er kann, obwohl er sich auch so seine Gedanken macht. Vor allem darüber, dass Patienten und Ärzte zwischen den Interessen der Politik und der Kassen zerrieben werden. Während seiner Sprechstunde stört es ihn schon, dass er immer öfter seinen Blick vom hilfsbedürftigen Patienten abwenden muss, um auf den Bildschirm des Computers zu gucken. Doch alles, was gegenwärtig in der politischen Debatte ist, dürfte die Bürokratie höchstens verschärfen. In Brandenburg diskutieren Kassen und Kassenärzte schon lange über Maßnahmen zur Rettung der Landarztpraxen wie Zulagen und Wegepauschalen. Doch dabei ist es bis jetzt geblieben. Dieter Weinreich hat noch ein paar Jahre Zeit, ehe die Sorge um einen Nachfolger in der Manschnower Kirchstraße ankommt. Unterwegs ist sie schon.
Zahlen & Fakten
Knapp 90 Prozent der Bevölkerung - 72 Millionen Bürger - sind in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichert. Rund 50 Prozent aller Ausgaben des deutschen Gesundheitswesens werden über sie finanziert. Die GKV finanziert ihre Ausgaben aus den Beiträgen ihrer Versicherten. Sie werden bemessen nach einem Prozentsatz des Arbeitsentgeltes. Ehegatten und Kinder sind beitragsfrei mitversichert, sofern diese kein Einkommen über eine bestimmte Höhe haben. Die Beitragsbemessungsgrenze wird jährlich angepasst. Für 2002 beträgt sie 3375 Euro monatlich. Die Beitragsbemessungsgrenze entspricht der Versicherungspflichtgrenze. Arbeitnehmer mit einem Bruttojahreseinkommen über der Versicherungspflichtgrenze können in die private Krankenversicherung wechseln. Getragen werden die Krankenversicherungsbeiträge je zur Hälfte von den versicherten Arbeitnehmern und den Arbeitgebern.
Es gibt acht Kassenarten und zurzeit 398 Krankenkassen: 5 Arbeiter-Ersatzkassen (regional und bundesweit), 17 Allgemeine Ortskrankenkassen (AOK, regional), 333 Betriebskrankenkassen (BKK, regional und bundesweit), 1 Bundesknappschaft (bundesweit), 30 Innungskrankenkassen (IKK, regional und bundesweit), 20 Landwirtschaftliche Krankenkassen (regional), 1 See-Krankenkasse (bundesweit).
In Deutschland arbeiteten im Jahr 2000 120000 niedergelassene Ärzte, 63000 Zahnärzte, 53000 Apotheker in 22000 Apotheken, 1,1 Millionen Ärzte, Schwestern und Pfleger in Krankenhäusern sowie 116000 Beschäftigte in Reha-Einrichtungen.
2001 überwiesen die Krankenkassen 22 Milliarden Euro auf die Konten der 23 Kassenärztlichen Vereinigungen, 410 Millionen Euro mehr als im Jahr 2000. Die Zahl der Kassenärzte nahm in derselben Zeit um 27 Prozent zu. Dem Zentralinstitut der Ärzte zufolge hatten 1998 die 25000 westdeutschen Allgemeinärzte im Durchschnitt einen Jahresumsatz von 190000 Euro. Nach Abzug der Betriebskosten blieb dem Durchschnittsarzt ein Bruttoeinkommen von 83000 Euro.
Deutschland gibt 10,8 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Gesundheit aus, das sind 220 Milliarden Euro. Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 77,5 Jahre.
Mit 70 Krankenhaus-Betten je 10000 Einwohner nimmt Deutschland im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz ein. Gleichzeitig ist die Behandlungsdauer mit durchschnittlich rund 12 Tagen je Fall länger als in anderen vergleichbaren Ländern. Experten sprechen von bis zu 20 Prozent fehlbelegten Betten in deutschen Krankenhäusern. Viele Leistungen der Krankenhäuser könnten ambulant erbracht werden. Fachleute schätzen, dass 40000 Krankenhausbetten abgebaut werden könnten, ohne dass die Versorgung der Patienten gefährdet wäre.