CHARLY ART
nierten Filme des Studios sind. Zu sehen sind Arbeiten unter anderen von Konrad Hermann, Volker Koepp, Heike Misselwitz, Roland Steiner und Hans Wintgen.
Die Überschriften weiterer Sonderprogramme verweisen auf die in Leipzig 1990 dezidiert geführte Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit Osteuropas. “Offiziell unerwünscht“ heißt eine Reihe verbotener Filme aus Rumänien, Bulgarien, der CSFR und der DDR, “Stalins Erbe“ vereint drei Beiträge zum Thema aus der UdSSR. Bis in die Nacht hinein bietet die Informationsschau Gelegenheit, Preisträger anderer Festivals und für den Wettbewerb nicht berücksichtigte aktuelle Produktionen zu sehen.
Als Peter Turrini 1967 den Konflikt, Werbetexter oder Mensch zu sein, nicht mehr ertrug, desertierte er auf eine griechische Insel. Das dramatische Ergebnis heißt „Rozznjogd“ (Rattenjagd) und artikuliert einen Rundumschlag gegen Konsum, Entfremdung, letztendlich gegen Selbstvernichtung: ER schleppt SIE nach der Betriebsfete auf eine Müllhalde, Nährboden seiner Philosophie. Wir sind Dreck und wir hinterlassen nichts als Dreck. Nach den Präliminarien (er will sie aufs Kreuz legen, sie ziert sich) und dem Erschießen von Ratten, hochstilisiert zum Mord-Ersatz, beginnen sie den schwierigen Weg aufeinander zu, der ihnen nur unter Entledigung aller zivilisatorischen Falschheit begehbar scheint. Sie werfen künstliche Haare, Zähne, Wimpern, Korsage, Brillen, Geld, Schmuck und Kleidung ab in der Hoffnung, dann endlich einander als sinnliche Wesen erkennen zu können. Was bleibt, ist der nackte Mensch auf dem Müllplatz.
Die Leipziger Deponie ist in der NEUEN SZENE gelegen, gebaut wurde sie von Barbara Schiffner, Horizont mit Rauchschwaden, romantisch illuminiert, glänzendschwarze Folie, darauf Weihnachtsmannbartwatte en masse, sorgfältig gepackte Müllsäcke, in denen sich immer das findet, was man gerade braucht. (Sind wir auf Turrinis Insel?
In diesem Kunstraum agieren die namenlosen Figuren als Spieler ihrer selbst. Ute Loeck als SIE und Jochen Noch als ER kokettieren mit sich, mit ihren Masken und Gebrechen. Sie werfen sich verbal und körperlich in Pose, ob es der
andere, der nur mühsam zum Spielpartner wird, wahrnimmt oder nicht. Lediglich in wenigen Momenten gelingt es ihnen, sich wirklich anzunehmen - zum Beispiel wenn sie ihre Hände auf Paßfähigkeit überprüfen oder auf der Folie miteinander Schlittschuh laufen. Beide beteuern, daß sie es ernst meinten mit dem Anti-Konsum-Spiel und lassen doch die Brücken hinter sich stehen. Jeder quält sich selbst und ohne Hilfe aus den Klamotten wie aus einer zweiten Haut und bleibt letztlich allein.Das Experiment Natur versus Natur scheitert kläglich. Nachdem sie animalisch ihre Nacktheit gefeiert haben, setzt ein Blick in den Spiegel den'Rückzug aus dem Paradies in Gang. Es folgt die Scham und mit ihr die neue Maskerade, die freiwillige Flucht in neue alte Wort- und Stoffhülsen. Ende des Märchens vom Glück ohne Schein und Scheine.
Die Regisseurin Konstanze Lauterbach denkt mit dieser vom Autor abweichenden Schlußvariante das Problem neu zu Ende. Bei Turrini werden beide als Ratten abgeschossen, Opfer einer übermächtigen Gesellschaft/Zivilisation. Die Zeit, die Regisseurin oder beide sind über das kreatürliche Bauchgrimmen der 68er hinweggegangen. Es werden nicht mehr aus Blut, Schweiß und Tränen Märtyrer geboren, die unseres Mitgefühls sicher sein können. Die Schizophrenie ist so weit fortgeschritten, daß wir - Öko-Notstand hin, Mainzer Straße her - nicht mehr einfach zwischen (Konsum-)Opfern und Tätern scheiden können. Schließlich sind wir beides.
CHRISTIANE LANGE
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.