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.Soziales Denken des 19. und 20. Jahrhunderts

  • Lesedauer: 4 Min.

Lesezeichen und Plakaten, mit denen der Dietz Verlag Berlin für seine neue Reihe wirbt, ist zu entnehmen, daß in dieser Edition Autoren mit sehr verschiedenen politischen und theoretischen Positionen vorgestellt werden. Bisher haben fünf Herausgeber, Hans-Jürgen Friederici, Egbert Joos, Hans-Jürgen Mende, Harald Neubert und Manfred Tetzel, acht Bände vorgelegt, die Arbeiten von Eduard Bernstein, Ossip K. Flechtheim, Antonio Gramsci, Karl Kautsky, Ferdinand Lassalle, Wladimir Iljitsch Lenin und Leo Trotzki enthalten. Fast dreitausend Seiten lesenswerter Text. Nicht nur der Preis der Bände machen die Wahl zur Qual.

Der Verlag greift mit dieser Reihe eine frühere, wenn auch leider abgebrochene Traditionslinie auf. Kautsky zum Beispiel fand immer mal wieder Eingang in das Verlagsprogramm. 1947, als die SED-Führung noch nach dem Prinzip der Parität organisiert war, erschienen die „Vorläufer des neueren Sozialismus“ und „Thomas More und seine Utopie“. 1965 folgte „Das Erfurter Programm“. In den ersten drei Heften der Monatsschrift zur Vorbereitung der Sozialistischen Einheitspartei, „Einheit“, findensich noch Vorstellungen für ein Verlagsprogramm, in dessen Profil auch Heinrich Cunow Eingang finden sollte. Bernstein und Lassälle

standen bereits damals für ein zu weit gehendes Zugeständnis an die sozialdemokratische Tradition.

Später haben sich andere Verlage in der DDR – lange vor dem Parteiverlag – dieses vergessenen Erbes angenommen. In einem der nächsten Bände könnte das bisher ungeschriebene Kapitel der Werkund Wirkungsgeschichte in der DDR skizziert werden. In den vorliegenden Ausgaben spielt dieser Aspekt leider keine Rolle.

An die Stelle jener, leider sporadischen Editionen ist die Bibliothek „Soziales Denken“ getreten. Erschienen sind eine Auswahl aus Bernsteins autobiographischen Schriften sowie seine Abhandlung über die „Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ Beiden Bänden liegen die Ausgaben von 1928 zugrunde. Was Bernstein, dessen Name über Jahrzehnte Synonym für Revisionismus und dessen Äu-ßerungen über das Verhältnis von Bewegung und Ziel unref lektiert in aller Munde waren, wirklich gedacht und zu Papier gebracht hat, kann jetzt nachgelesen werden.

Ausgesprochen spannend ist die erstmals besorgte Ausgabe der von 1918 bis 1921 zwischen Lenin, Trotzki und Kautsky geführten Debatte über Demokratie und Diktatur. Die Titel der Streitschriften lesen sich wie eine aktuelle Heraus-

forderung: „Terrorismus und Kommunismus“, „Von der Demokratie zur Staatssklaverei“, „Die proletarische Diktatur und der Renegat Kautsky“.

Die zwei Bände sollten keine Ausnahme in der Bibliothek sein. Denn gerade sie widerspiegeln den in der Theoriegeschichtsschreibung hierzulande konsequent verdrängten Meinungsbildungsprozeß in der internationalen Arbeiterbewegung. Die drei agierenden Opponenten, schillernde Figuren der Arbeiterbewegung, wurden und werden von unterschiedlichen Richtungen vereinnahmt und zu „Klassikern“ erklärt. Ihr „Nebeneinander“ auf dem Einband erinnert an die Normalität im Meinungsbildungsprozeß und fordert dem Leser Toleranz gegenüber dem andersdenkenden Theoretiker ab.

Die ausgewählten Reden und Schriften Flechtheims aus den Jahren 1937–1974 unter dem programmatischen Titel „Vergangenheit im Zeugenstand der Zukunft“ werden bald durch einen weiteren, ebenfalls von Joos herausgegebenen Band ergänzt, der eine Biographie, Interviews und Aufsätze Flechtheims enthält.

Die angekündigten Auswahlbände mit Arbeiten von Anton Ackermann, Max Adler, Ernst Bloch, Etienne Cabet, Robert Daniels, Iring Fetscher, Leo Kofier, Antonio

Labriola, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Ernest Mandel, Herbert Marcuse, Karl Marx und Adam Schaff versprechen eine repräsentative, wenn auch meines Erachtens noch zu sehr an neuen Lesegewohnheiten und sozialwissenschaftlichem Nachholebedarf orientierte Studienbibliothek. Zu überlegen wäre, ob nicht einige, in den zwanziger Jahren in der „Marxistischen Bibliothek“ des Verlages für Literatur und Politik publizierte Ausgaben übernommen werden könnten. Diese Bibliothek und mehrere der für sie schreibenden Autoren fielen in den dreißiger Jahren den von Stalin und seinen Gefolgsleuten organisierten Säuberungen zum Opfer.

Neben der Vorstellung sekretierter, mit diversen „ismen“ belegter und damit der Nutzung entzogener Autoren könnte die Bibliothek „Soziales Denken“ vor allem durch die Einbeziehung der Rezeption, also der Werkgeschichte- und Wirkung gewinnen. Es wäre zu einfach, die bisherige Theorieproduktion lediglich abzutun und sich „dem Studium der neuen Quellen“ zuzuwenden. Nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt darf man auf die Bücher gespannt sein, die die Theorieproduktion in den Jahren 1946–1965 sowie 1985–1990 umfassen.

Dr. WLADISLAW HEDELER

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