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Das Wellenrad der Geschichte

Im erzgebirgischen Schwarzenberg hat die DDR in Waschmaschinenform überlebt

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 6 Min.
Gedeihen Kürbisse unter der Sonne der freien Marktwirtschaft besser als im real existierenden Sozialismus? Wohl kaum. Also können Obst und Gemüse nicht der Grund sein. Eine halbe Stunde, so verrät das von der Firma Foron erarbeitete Faltblatt »Einkochen in der WM 600 L«, mussten die Gläser mit dem süßsauer eingeweckten Kürbis erhitzt werden, um den Winter zu überdauern. Der Temperaturregler war auf 90 Grad Celsius einzustellen. Aber wer kocht noch »Arbeiterananas« ein in einer Zeit, da aus Arbeitern längst Arbeitnehmer geworden sind und die Südfrüchte auch nach Weihnachten aus den Regalen quellen? Das Obst ist es nicht, und die Bockwürste sind es auch nicht. Die sollen am Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse und bei allerlei anderen festlichen Anlässen, bei denen viele Menschen großen Hunger bekamen, in der WM 66 erwärmt worden sein. »Heute dürften sie das nicht mehr«, sagt Reiner Schreier. Denn die freie Marktwirtschaft zeichnet sich durch ein gestrenges Regelwerk aus, und der Bottich des legendären Bockwurstkochers ist zwar aus Edelstahl, »aber nicht aus Lebensmittel-Edelstahl«, sagt Schreier. Und trotzdem: Die WM 66 lebt. Zwar hat die wahrscheinlich populärste, zumindest aber die vielseitigste Waschmaschine, die jemals gebaut worden ist, in den 70er Jahren ihren Namen gewechselt. Nach einem »Facelifting, das damals noch als Kreisjugendobjekt bezeichnet wurde«, war an der WM 600 die Thermometerskala verschwunden, stattdessen kam ein neuer Drehknopf hinzu. Bei der nach Holland exportierten WM 600 L - was für »Luxus« stand - gab es neben den Temperaturangaben an der Skala auch kleine Fruchtsymbole; zudem wurde der Holzrost, auf dem die Einweckgläser über dem Wellenrad platziert wurden, gleich mitgeliefert. »Innen drin aber«, sagt Schreier, »sieht die Maschine heute aus wie eh und je«. Umso merkwürdiger mutet es an, dass die von Schreier geleitete Tarak GmbH im erzgebirgischen Schwarzenberg den archaischen Vorfahr moderner Haushaltstechnik noch immer herstellt - und verkauft. Rund 3000 Stück setzte die Rostocker Vierling Elektrohandel GmbH im vergangenen Jahr ab, für 259 Euro, immerhin fast der Preis eines einfachen Vollautomaten. 3000 Exemplare einer Maschine, die ein wenig wie das Land ist, in dem sie entwickelt wurde: Klein, nicht wirklich hübsch, aber praktisch. Und während das Rad der Geschichte längst über die DDR hinweg gerollt ist, dreht sich das Wellenrad der WM 66 unbeirrt weiter. In einer Welt, in der es nur noch eine Frage der Zeit zu sein scheint, bis hypermoderne Waschautomaten auch Einkäufe erledigen und Kinder betreuen, mutet die Fortexistenz der WM 66 wie eine Zumutung oder aber wie ein Hoffnungsschimmer an. Stand der Technik sind hier das Vorhandensein einer Laugenpumpe und eines Drehthermostats. Eine Schleuder, Waschprogramme, Energiespareinrichtungen oder selbst eine Automatik zum Wassereinlassen sucht man heute wie vor 36 Jahren vergebens. »Eigentlich«, räumt Schreier ein, »gibt es keinen vernünftigen Grund, dieses Fossil weiter zu bauen«. Außer, dass es sich verkauft. An wen - darüber zerbricht sich Schreier nur gelegentlich den Kopf. Nostalgiker mögen darunter sein, die weißwaschen wollen wie in ihren Jugendtagen; High-Tech-Abstinenzler, die gegen die Wegwerfgesellschaft anspülen, oder verzärtelte Gemüter, die ihren gehätschelten Vollautomaten keine wirkliche Schmutzwäsche zumuten wollen. Auch vernünftige Gründe für den Erwerb einer WM 66 gäbe es: Allergiker, die ihre Wäsche bei 100 Grad kochen müssen, werden von modernen Geräten ebenso im Stich gelassen wie Bewohner entlegener Gegenden, in denen das Wasser drucklos aus den Leitungen plätschert. In Schwarzenberg ist die Herstellung der WM 66 eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Vier, manchmal fünf Menschen stehen an dem etwas archaisch anmutenden Rollenband im ersten Stock des riesigen, düsteren Fabrikgebäudes. In einem Fertigungsnest, das in den 70er Jahren gegen den Trübsinn der Fließbandherstellung entwickelt wurde, schrauben sie Edelstahlbehälter, Pumpen und Kabelbäume in die reinweißen Gehäuse. Die Halle ist das traurige Relikt einer hundertjährigen Tradition im Waschmaschinenbau. 1902 wurde in Schwarzenberg die erste Maschine der Welt mit Stahltrommel erfunden. Zu DDR-Zeiten standen in dem Werk 3500 Menschen an Fließbändern. Sie montierten Halb- und Vollautomaten; schraubten an Top- und Frontladern wechselnder Modellreihen - und immer auch an der WM 66. Über 250000 Exemplare der Maschine wurden jedes Jahr ausgeliefert. Die Taktzeit von 25 Sekunden an den Fließbändern brachte die Monteure fast um den Verstand, aber »ein Mangelprodukt waren Waschmaschinen nicht«, sagt Schreier. Nur am Komfort fehlte es eben ein bisschen. Als aber die schöne neue Quelle-Welt anbrach, kam die Produktion in dem Erzgebirgsstädtchen aus dem Takt. Das Waschgerätewerk wurde 1992 »von der Treuhand liquidiert«, formuliert Schreier, der 1976 als Lehrling in den Betrieb gekommen war. Drei Auffanggesellschaften versuchten sich mit der Montage, der Entwicklung und dem Vertrieb von Waschmaschinen über Wasser zu halten. Nach einer Wiedervereinigung unter dem Namen »Foron« kam die Produktion zwar wieder auf Touren. Doch im Jahr 2000 mussten die Waschmaschinenbauer mit einer erneuten Insolvenz das Handtuch werfen. Damals hätte sogar für die WM 66 beinahe die Sterbestunde geschlagen. Die vollautomatisierte Taktstraße zur Gehäusefertigung war zu unrentabel geworden: 300000 Stück pro Jahr hätten gepresst, gefalzt und lackiert werden können; 5000 der Blechteile wurden nur noch gebraucht, Tendenz sinkend. Eine neue, kleinere Anlage hätte eine Viertelmillion Mark gekostet - Geld, das der Betrieb nicht mehr hatte. Es kam zum Streit mit Foron, der auch das Insolvenzverfahren überschattete. Schwarzenberg schien den letzten Waschgang gesehen zu haben. Als der damalige Betriebsleiter Schreier mit zwei weiteren Teilhabern die Überreste des Werks kaufte und die Tarak GmbH gründete, wollte er eigentlich nur noch Gasheizer herstellen, wie sie schon zuvor gefertigt worden waren. Zudem arbeitet die Firma an der Entwicklung von Anlagen zur Trinkwasser-Aufbereitung und an einem Schrank-Wäschetrockner. Ein schwieriges Geschäft, das den 33 Mitarbeitern vieles abverlangt. »Wir erledigen viele Aufgaben in Personalunion«, sagt der Geschäftsführer, der seit dem »Management-Buy-out« für das Wohl und Wehe des Betriebs verantwortlich ist: »Wir können nicht mehr mit dem Finger auf andere zeigen.« Doch auch bei dem neuen Firmenchef klingelten Händler an - und fragten nach der WM 66. Also wird der Klassiker weiter produziert. Genau durchrechnen, sagt Schreier, dürfe er die Produktion zwar nicht: »Das Unternehmen verdient damit ganz gewiss kein Geld.« Fünf der Mitarbeiter aber schon - angesichts der Arbeitslosigkeit in Schwarzenberg ist das vielleicht ein ausreichender Grund. Und so dreht sich das Wellenrad mit Geschichte immer noch. Schreiers Leute wundern sich gelegentlich und schrauben ansonsten munter drauflos. Selbst hat keiner von ihnen eine WM 66 zu Hause, ist sich der Chef sicher. Und auch er selbst würde von einem Kauf eher Abstand nehmen: »Meine Frau würde mich rauswerfen.« Die fehlende Begeisterung mag der zurückgegangenen Kürbisproduktion geschuldet sein: »Die drei Gläser pro Jahr«, sagt Schreier, »kochen wir im Topf«.
WM 66-Vertrieb: A. Vierling GmbH, Telefon: 0381455 834

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