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Gorbatschows Entmachtung: Das Ende einer Ära?

  • GUNTOLF HERZBERG
  • Lesedauer: 3 Min.

Es hat sich angekündigt, niemand dürfte ernsthaft überrascht sein. Daß der Reformkurs im Innern auf horrende Schwierigkeiten stieß, daß die Wirtschaftspolitik keine kurz- oder mittelfristigen Erfolge zeigen konnte und das Land in einer tiefen Krise steckt, ist weltweit bekannt. Die Nationalitätenkonflikte der nach Unabhängigkeit strebenden Völker des Baltikums und im Süden der Union sind mit einer besitzstandswahrenden zentralistischen Politik aus Moskau nicht mehr zu regulieren.

Das große Reformwerk Gorbatschows hat seit 1985 die Weltpolitik entscheidend verändert, auch wir Deutschen - und besonders die Menschen in der ehemaligen DDR haben Gorbatschow viel zu verdanken. Schon Anfang '90 war es kein Geheimnis mehr: Der Einigungsprozeß läuft mit den innersowjetischen Auseinandersetzungen um die Wette, die „2-plus-4“-Verträge wären ohne Gorbatschow nicht verwirklicht worden, jeder denkbare Nachfolger hätte die Bremse gezogen. Dann drängte der

Golfkrieg noch einmal die innersowjetischen Konflikte zurück. Auch die neunjährigen START-Verhandlungen waren aus amerikanischer Sicht nur mit Gorbatschow verläßlich und zukunftsweisend abzuschließen. Da stand er nun Ende Juli im Zenit seines außenpolitischen Wirkens.

Doch im Inneren bröckelte, ja brach seine Position seit geraumer Zeit auseinander. Erst Gorbatschow hat den Post-Stalinismus in der Sowjetunion beseitigt, seit 1985 die alten Kräfte der „Breshnewtschina“ entmachtet, den Einfluß der Militärs zurückgeschraubt, eine jahrzehntelange politische Lethargie mit der „Perestroika“ aufgebrochen - und sich eine politische Gegnerschaft der Apparatschiks in Partei, Staat und Militär geschaffen. Solange die multinationale sowjetische Bevölkerung eine politische, wirtschaftliche und soziale Verbesserung ihrer desolaten Lage erwarten konnte und Gorbatschows Kampf gegen die Rückstähdigkeit des Riesenlan-

des unterstützte, konnte er diesen Balanceakt durchstehen.

Es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, als ich 1986 öffentlich sagte, daß diese Reformpolitik höchstwahrscheinlich an zwei Problemen scheitern wird: an der Nationalitätenfrage und an der Wirtschaftspolitik. Gorbatschows Demokratisierungsschritte haben zwangsläufig den schlafenden Löwen geweckt: Die Unabhängigkeitsbestrebungen der nördlichen und südlichen Republiken hat er erst unterschätzt, dann mißachtet, die Stabilität des Gesamtstaates ist nicht durch, aber mit Gorbatschow am Ende. Und was er überhaupt nicht leisten konnte: eine unfähige Planwirtschaft zu reparieren. Streiks, Lebensmittelknappheit, Schwarze Märkte und immer größere Korruption brachten das Land an den Rand des wirtschaftlichen Ruins. Die Bevölkerung entzog ihrem Reformer das Vertrauen - das Auspfeifen auf dem Roten Platz am 1. Mai vergangenen Jahres war das unüberhörbare Alarmsignal. Links und rechts regten sich die Gegen-

“ kräfte: Für Jelzin und dessen Anhänger war er nicht radikal genug, die Konservativen sahen im angekündigten Übergang zur Marktwirtschaft mit Recht das Ende des sowjetischen Sozialismus.

Jetzt ist die Krise politisch aufgebrochen. Es geht nicht mehr um Gorbatschow: Er kann das wirtschaftlich ruinierte Land nicht mehr retten. Ein geregelter Übergang zur Marktwirtschaft ist ohne katastrophale Erschütterungen nicht zu erreichen, eine die gesamte Sowjetunion befriedigende Lösung ist nicht zu sehen. Nicht die Demokratisierung hat das Land in die Krise gebracht, nicht Gorbatschows offensichtlich gescheiterte Reformen, sondern eine jahrzehntelange politische und wirtschaftliche Rückständigkeit, die man durch keinen neuen „starken Mann“ und durch keine Rückwärtsbewegung überwinden können wird.

Der Ay,tor ist Philosoph an der Freien Universität Berlin und Mitglied der Initiative Frieden und Menschenrechte.

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