Der ORB drehte, Bild berichtete, sogar RTL war da! Bevor die Welt noch gebannt auf Irak sah, weil dort eine mörderische »Volksbefreiungsaktion« begann, hatte sie für einen Wimpernschlag den Blick auf Fürstenwalde gerichtet. Auf Fürstenwalde in Brandenburg, das an der Bahnstrecke Paris - Berlin - Warschau - Moskau liegt, deren Züge dort aber nie anhalten. Auf Fürstenwalde an der Spree, das bestenfalls ein Vogelnest auf unserem Globus abgibt. Unglaubliches war dort geschehen: Gut zehn Jahre nach dem Bildersturm, der im Osten die Sockel leerfegte, votierten die Stadtparlamentarier mit überragender Mehrheit dafür, wieder ein Bildnis von Karl Marx auf dem Granitstein im Stadtpark anzubringen. So geschah es am 14. März. Am 120. Todestag des kommunistischen Denkers und Träumers wurde besagtes Denkmal denn auch der Öffentlichkeit übergeben.
Auch in meiner Redaktion löste die Nachricht Irritation aus. Was war los in Fürstenwalde? War dort die Restauration ausgebrochen? Hatte die PDS die Macht übernommen? Nichts dergleichen schien vorstellbar. Und sollte man sich das denn wünschen?
In Fürstenwalde erwarten mich an einem Frühlingstag drei Männer, um mich über die Lage aufzuklären. Sie vertreten die Initiatoren der Aufsehen erregenden Aktion - Erhard Heinrich, Günter Tichter sowie Dr. Werner Ohl. Sie sind nett. Sie sind alt. Sie sind in der PDS - ganz daneben lagen wir in der Redaktion also nicht. Heinrich war zu DDR-Zeiten in der Abteilung Volksbildung der SED-Kreisleitung tätig gewesen. Tichter hatte im Reifenwerk als hauptamtlicher Parteisekretär über den Lauf der Dinge gewacht. Und Dr. Ohl hatte in Berlin, im Ministerium für Volksbildung, Margot Honeckers Entwicklung »vom Kumpel bis zur arroganten Ministerin« hautnah miterleben müssen. Alle drei ehrliche Sozialisten, immer noch, auch nach der Enttäuschung. An diesem Vormittag repräsentieren sie die Seniorenarbeitsgruppe ihrer Partei in Fürstenwalde, sie nennen sie kurz »SAG«. »Keine Aktiengesellschaft«, scherzt Heinrich - als wäre das nicht mal ein Coup gewesen, ihrer Partei auf die Beine zu helfen! Andererseits fehlt der PDS ja zum Kämpfen nicht nur das Geld, das sie bei ihrer gelungenen Abwahl auf Bundesebene einbüßte, sondern auch der Kampfplatz, an dem man sie brauchte. An der Suche nach diesem Platz beteiligt sich auch die SAG. Es sei aber schwer, erzählen die Drei, rechtzeitig an Materialien der Programmdiskussion zu kommen. Immerhin könnten jetzt zwei Genossen aus der SAG mit Computern umgehen, so dass sie Einiges aus dem Internet ziehen und also bereits dieses wissen: Ein neues Parteiprogramm werde sich nicht allein auf Marx, sondern auch auf Lasalle und Bernstein stützen.
Sie taucht ganz aus der Tiefe auf: die Erinnerung an die angestrengten FDJ-Studierzirkel, die gespitzten Rotstifte, die Exzerpte, die Schnellhefter. Mit der selben Ernsthaftigkeit wie einst Marx werden sich die PDS-Senioren dieses Mal die »Abweichler« Lasalle und Bernstein vornehmen. Ihre Sympathien freilich werden nach wie vor dem Begründer des wissenschaftlichen Kommunismus gelten. Die drei Männer tragen zusammen, weshalb Marx für sie aktuell ist - Stichworte wie »Analyse des Kapitalismus«, »Verwertung des Kapitals« und »Arbeitslosenheer als Reservearmee« springen über den Tisch wie Pingpongbälle: »Heute sind diese Erkenntnisse ja viel greifbarer denn je. Marx hat uns als PDS was zu sagen.«
Wirklich? Die PDS im Landkreis rekrutiert sich zu über 60 Prozent aus betagteren Jahrgängen. Was ist mit den Jüngeren? Waren die auch erpicht auf Marx? Haben sie die Senioren unterstützt? »Naja«, sagt Ohl, »die gehen arbeiten. Sie wissen doch, wie das Pensum ist, wenn man heute noch Arbeit hat - da bleibt kaum Zeit für was anderes. Also haben wir gesagt, dass wir uns der Sache annehmen.«
**
 |  |
 | Die Paten des neuen Karl-Marx-Denkmals: Erhard Heinrich, Günter Tichter, Dr. Werner Ohl |
 |
Mögen auch Heinrich, Tichter und Ohl mit der Entwicklung zufrieden sein, die Reporterin ist es nicht. Eine Bürgerbefragung, das wärs gewesen! Man hätte das Ohr an der Masse und den Blick auf die Straße gehabt - mehr hätte man über Fürstenwalde nicht in Erfahrung bringen können. So muss ich mich, manchmal ist mein Job hart, selbst vor das Karl-Marx-Denkmal stellen und nach dem Zufallsprinzip Passanten ansprechen.
Es sind nicht viele, die an diesem Nachmittag die erst kürzlich rekonstruierte und jetzt schmucke Karl-Marx-Straße passieren oder im Stadtpark spazieren gehen. Nur einige, die vom Bahnhof kommen oder ihre Hunde ausführen. Gerhard Budow beispielsweise, 48 Jahre alt, gelernter NCC-Baumaschinist. Marx oder Bismarck? »Lieber Marx«, antwortet er ohne nachzudenken. Warum? »Weil der schon immer da war. Ich bin sozialistisch aufgewachsen - der war doch für die Arbeiterklasse.« Macht der Gewohnheit, des trägen Beharrens? Oder Verbundenheit eines Mannes, dessen Klasse derart schrumpft, dass sie demnächst auf die Liste der bedrohten Arten gehört?
Vom Bahnhof nähert sich ein Union-Fan; sein Schal weht ihm wie eine Fahne voran. Tobias Kühn ist Schüler, 13. Wie Budow entscheidet er sich für Marx: »Ich bin nicht bewandert auf dem Gebiet, aber Opa erzählt manchmal...« Die Geschichten, die Opa erzählt - den Töchtern und Söhnen kamen sie nach dem, was sie sahen, was sie erlebten, irgendwann zu den Ohren raus. Die Enkel sind fasziniert von ihnen. Es sind Geschichten von Not, Unterdrückung, der Romantik des Kampfes, von siegreichen Helden. Sie sind nicht ganz redlich, diese Geschichten. Aber man darf sie nicht unterschätzen.
Annette Siebke, 28, ist es »eigentlich egal«, wessen Bildnis das Denkmal ziert. Denkmäler sind ihr egal, aber da dieses nun mal da ist, möchte sie dann doch lieber Marx. Als früherer DDR-Bürgerin steht Marx ihr letztlich näher als Bismarck: In der Schule hat sie »Mohr und die Raben von London« gelesen. Vom »Kapital« hat sie zwar gehört, doch hineingeschaut hat sie nicht - ihr Urteil ist nur ein Lottotipp.
Auch Karel H., 50, älter aussehend, ist das Denkmal »schnurzegal«. Politik interessiert ihn nicht. Andererseits, wenn er überlegt, »passt der Marx vielleicht doch besser her. Wenn man das alles so hört, was passiert, das mit dem Arbeitslosengeld und mit der Sozialhilfe, ist man sowieso bedient.« H., kann ich mir vorstellen, ist der Typ Protestwähler. Der Typ, bei dem es besser wäre, wenn er überhaupt nicht wählte, weil es auch noch andere Alternativen als Marx oder Bismarck gibt.
Roswitha Schreiter, 52, möchte nach der Vergangenheit lieber Bismarck auf dem Denkmal. »Diese ewige Nachspioniererei, nicht in Freiheit leben können - das wurde uns so aufgedrückt, wir hatten die Nase so voll.« Die Sekretärin, schon halb wieder auf dem Rad, steigt noch einmal zögernd ab: »Das wollen Sie so veröffentlichen? Ist das nicht etwas oberflächlich? Helfen Sie mir mal mit Bismarck! Sozialistengesetze? Nein. Dann doch nicht Bismarck, dann keinen von beiden.«
Sabine Haase, 35, zockelt mit ihrem Hund durch den Park. Die Sozialarbeiterin möchte sich nicht festlegen. »Marx und Bismarck, sie gehören ja beide zu unserer Geschichte. Beide haben Ecken und Kanten. Die Kanten bei Marx: War ne hübsche Idee, aber da steht der Mensch im Weg. Es funktioniert vielleicht im Kibbuz, aber nicht im großen Rahmen - also warum kein Denkmal für beide?«
Vor einem hellen, sauberen Hauseingang plaudern Daniela Korn und Carola Straßburg, beide Sachberarbeiterinnen. Im Wesentlichen sind sie sich einig: »Bismarck kann nicht mehr sein, Marx stand uns näher. Doch eigentlich möchten wir keinen von beiden.« Wen dann? Sie fänden es am besten, es »würde keiner mehr auf den Sockel gehoben - weder von der PDS, noch von anderen Parteien, die sind nämlich auch nicht besser.«
Der Gedanke ist mir sympathisch. Da es für die Idee von den steinernen Parks der Erinnerung zu spät und für den Kultursprung noch zu früh ist, wäre Zeit, sich um anderes zu kümmern. Um die Kinder, um die Bäume, um alles Lebendige.