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  • Thüringen: Kulturerbe ist schön, aber es ist kein Geld da für Sanierung und Denkmalschutz

Der Geheime Rat mit der Werbetrommel?

  • Lesedauer: 3 Min.

Es könnte alles so schön sein in der neuen Thüringer Fremdenverkehrswelt: Der alte Geheimrat Goethe als Galionsfigur für die Tourismuswerbung, hunderte von unentdeckten Sehenswürdigkeiten, gut erhaltene Gebäude aus dem Mittelalter, ganze Straßenzüge im bürgerlichen Barock könnten die Herzen von Kulturreisenden höher schlagen lassen. Könnten. Denn in Thüringen wiederholt sich die Geschichte: Kulturerbe ist schön, aber zu teuer. Deshalb soll es mit billiger Fassadenkosmetik gelif tet oder - wenn Investoren dies wünschen - auf die Schnelle plattgemacht werden. Für umfassenden Denkmalschutz, für großflächige Sanierungsmaßnahmen und weitsichtige kommunale Entwicklungspolitik fehlt es in den Gemeinden des kleinsten neuen Bundeslandes oft an fähigen Entscheidungsträgern und immer an Geld. Das war vor dreißig Jahren im Westen nicht anders.

Dieses Land ist ein Schmuckkästchen, dessen Schätze oft nicht einmal den Historikern bekannt waren: versteckte jüdische Friedhöfe, dort gibt es sie; jahrhundertealtes Fachwerk und alte Pflasterwege, man stolpert beinahe drüber; sozialistische Bausünden, ebenso Zeugen der Vergangenheit wie Goethes Glanz und Gloria im weltberühmten Weimar. Zugegeben, einige Attraktionen wurden schon zu SED-Zeiten aufpoliert, einige weitere Bauwerke saniert nun der gesamtdeutsche Staat. Doch für die Masse an Kulturgütern, die hinter Feldern, Wiesen und schlechten Straßen versteckt auf ihre Entdeckung warten, gibt es keine Perspektive.

Thüringens Schönheit ist an vielen Stellen brüchig. Vielleicht lieben gerade deshalb romantische Gemüter den morbiden Charme bröselnder Fassaden, efeu-umrankter Mauerreste und verwilderter Mischwälder. Trotzdem muß niemand ein Poet sein, um zwischen Altenburg, Nordhausen, Eisenach und Sonneberg ständig ins Schwärmen zu kommen.

Zum Beispiel auf der alten Pferderennbahn Boxberg mit ihrer hölzernen Tribüne oder im Heimatmuseum von Ruhla, wo die Pfeifenkopf Schnitzer aus Meerschaum filigrane Kunstwerke schufen. Oder im „Botanischen Garten“ von Schloß Neuenhof, wo kein Mensch mit alten exotischen Bäumen rechnet; in der barocken Puppenstadt „Mon Plaisir“ in Arnstadt, die Fürstin Augusta Dorothea von 1691 bis 1750 von ihrem Hofstaat basteln ließ, oder auf dem Waldfriedhof der Salzmannschule für Pädagogik in Schnepfenthal, wo zwischen Polstern aus Buschwindröschen die Freidenker des 18. Jahrhunderts begraben sind. Hier hat man auch Johann Christoph Friedrich Guts-Muths beerdigt, der das Schulturnen einführte. „GutsMuths war im Prinzip das Vorbild von Turnvater Jahn, nur hatte der Turnvater Jahn sozusagen das bessere Marketing, deshalb kennt ihn heute noch jeder“, erläutert Norbert Dagg.

Dagg ist ein ungewöhnlicher Reiseführer. Vor einem Jahr hat er den Sprung ins kalte Wasser gewagt; der ehemalige Assistent im Thüringer Landesmuseum für Volkskunde kaufte einen roten Kleinbus und machte sich als Reiseveranstalter für Touren in „sein“ Thüringen selbständig. Das Geschäft läuft zäh, kaum jemand weiß, was das neue Reiseland zu bieten hat. Man muß Norbert Dagg nur fragen: „Uralte Bauernhöfe, verschwiegene Friedhöfe, Wehrkirchen mit prächtigen Orgeln und Wandmalerei aus dem Mittelalter, Thüringen ist unglaublich vielfältig - und landschaftlich ohnehin 'ne glatte Eins!“ Der 40jährige kommt ins Schwärmen. Und weil Thüringen so unglaublich vielfältig ist, macht er einen Schlenker nach Dosdorf zum „Anti-Treuhand-Schild“.

An Arbeit fehlt es den Heimatfreunden und Denkmalschützern in Thüringen gewiß nicht, doch an allen Ecken fehlt das Geld. Die Einkünfte aus dem Tourismus sind (noch) so gering, daß die Gemein-

deräte lieber finanzkräftige Industriezweige in die Dörfer locken, als das Kleingewerbe und traditionelle Handwerk zu fördern. Auch die Regierungssparer in Bonn drehen den Geldhahn zu - so erleben

die Thüringer derzeit ihre Version der real existierenden Marktwirtschaft: Erst kommen Umsatz und Profit, Kultur und Denkmalschutz müssen warten.

ANNA PENZ, travel-report

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