- Politik
- Abschiedserklärungen an die DDR von ULRICH ZIEGER
Flucht vor den eigenen Utopien
„Ich konnte dieses Land nicht verlassen, ohne noch etwas dazu gesagt zu haben.“ Der 1961 in Döbeln/Sachsen geborene Lyriker Ulrich Zieger, der im Frühjahr 1989 die DDR verließ, hat mittlerweile mehr als etwas zu der zurückgelassenen Heimat gesagt. Da ist zunächst das Buch „neunzehnhundertfünfundsechzig“, eine erste Abschiedserklärung nicht nur an die DDR, sondern auch an die eigene Geschichte: „neunzehnhundertfünfundsechzig“ dokumentiert einen persönlichen Blick in die Kindheit Ziegers, einen Abschiedsgruß an einen alten Spielgefährten, der 1965 durch eine selbstmörderische Gasvergiftung seiner Mutter mit ums Leben kam. Der Selbstmord der Mutter, dem der beste Freund zum Opfer fällt, ist der Selbstmord einer Utopie, der Tod einer bleichen Mutter Deutschland, die im Osten nicht weniger fahl sich zeigte als im Westen. Für „neunzehnhundertfünfundsechzig“ erhielt Ulrich Zieger 1991 den-?Nicolas-Born-Preis.
Mit den nun vorliegenden Texten hat Ulrich Zieger eine Trilogie des Todes vervollständigt. Dreimal, auf drei verschiedene Arten, sterben Menschen, deren Tod metaphorisch auch den der alten Gesellschaft bedeutet. Jeder Tod bedeutet Zieger Abschied von der DDR. In „neunzehnhundertfünfundsechzig“ der Tod der Kindheit, im „Zweifelhaften Ruhm dreier Dichter“ der Tod von Schriftstellern, die in dieser tödlichen Kindheit ihre Jugend hatten, schließlich in „Große beruhigte Körper“ der Tod der Sprache.
„Große beruhigte Körper“ ist ein Reisetagebuch von Ziegers Verlassen der „deutsch-demokratischen“ Verhältnisse, das Reisetagebuch einer Odyssee, auf der fünf Gefährten jähe Erfahrungen machen müssen: „die reise doch gar keine fahrt / da die weit stünde.“ Was als Flucht geplant war, wird zur Reise ins Niemandsland; der Tod von vie-
Ulrich Zieger: Der zweifelhafte Ruhm dreier Dichter. Edition QWERT ZUI OPÜ. 96 Seiten, 40 DM. Große beruhigte Körper. Edition Galrev. 110 Seiten, 25 DM.
Beide erschienen im Druckhaus Galrev Berlin.
ren der fünf Reisenden ist dabei abermals eine Metapher des Stillstandes. Was hier auf der Flucht ist, ist eigentlich die deutsche Sprache, die ein Erbe bewahren will, mindestens das der Literatur, die nach der westdeutschen Annektion der zusammengebrochenen DDR nicht minder von Abwicklung betroffen ist als das gesellschaftliche Gefüge insgesamt.
„o damals in deutschland, so auch / intonierte der schwingende läuternd / und; gestern in gestern / im aufschub hingegen das licht, / bloß der vogel begriff und / begriff nicht, erhielt sich kaum / über die erste gegangene meile / r in anderem; zählmaß gedacht / und in weiterem zählmaß gezeichnet.“ Was Zieger hier den Vogel Begriff nennt, der dann doch nicht begreift, könnte jenen Begriff der Utopie meinen, der - als Eule Minerva - nicht den Flug in Dunkelheit unternimmt, sondern die Flucht über die Grenze, die schon keine mehr ist. Kaum war diese „erste gegangene Meile“ überschritten, wurde der Begriff anders gedacht, gar nicht gedacht, war die Utopie von der Freiheit bloß noch gezeichnet: „was lebten wir dort illusionslos und / schläfrig... glaubten an weitere buchstaben-.“ Der Mensch floh aus den versteinerten Verhältnissen, die nicht zum Tanzen gebracht wurden, vor seinen eigenen Utopien, und er flieht direkt in die Fänge des goldenen Westens. Nur einer schaut zurück: „mundspruch geheißen / lag rückwärts und hing / das gesicht an der gleißenden Scheibe.“
Sprache, gesprochenes Wort, das auf sich selbst zurücksieht, die eigene Vergangenheit und die im Namen einer Literaturgesellschaft veröffentlichten Texte beschaut. Zieger hat dieses Thema in dem kunstvoll in Bleisatz publizierten Band „Der zweifelhafte Ruhm dreier Dichter“ wörtlich verdichtet. Aus fiktiven Abschiedsbriefen, -zetteln, und Notizen wird dem Ruhm dreier Dichter bis zu ihrem Tod nachgestellt. Einmal mehr ist hier auch die sprachliche Verwirrung, die auch in vereinigten deutschdeutschen Verhältnissen noch eine reale ist, zentral: „Ich bin auf einen verlassenen Bahnsteig gegangen und lese aus den Rissen im Beton die Abfahrtszeit des nächsten Interzonenzuges ... darf man das noch sagen, ich weiß es nicht.“ Statt dessen Gewißheit in größeren Dingen: „Ich bin heute abend ganz sicher, daß die Menschen nun bald sterben müssen.“ Das läßt Zieger den Dichter Nickel Diller in einem Brief schreiben, ein Dichter, der über den Entwurf zu einem Werk namens Nimrodt hinwegstirbt.
In der Thematisierung des Todes spielt Zieger mit Literaturgeschichte: Nimrodt, jener Gründer des babylonischen Reiches, jener eifrige Jäger, hat Parallelen zum Kafkaschen Jäger Gracchus, dem das Sterben mißlang. Nimrodt, als unvollendetes Werk eines toten Dichters, wird zum Sinnbild einer Literatur, die sich ein eigenes Reich schuf - die Bechersche Literaturgesellschaft. Zieger nimmt Abschied von Kollegen deutscher Literatur und von einer Sprache, die sich die Dinge, schließlich die ganze Welt einverleiben wollte. So wie Zieger Sprache verwendet, ist sie nicht länger bloßes Instrument zur Identifikation mit den Sachen. Es ist deutsche Sprache, die nicht länger für Deutschland sprechen ,'. will. Aber sie kann das Schweigen brechen, welches im Namen Deutschlands verhängt wurde.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.