- Wirtschaft und Umwelt
- Bonner Sparpläne bürden Kommunen 2,2 Mrd. DM mehr Sozialhilfe auf/Wie Städte reagieren
Wiederauferstehung der Zwangsarbeit?
Während in der Debatte um die Neugestaltung eines „zweiten Arbeitsmarktes“ zumindest im Westen noch über die Entlohnung - tariflich oder untertariflich - gestritten wird, gehen die Planungen in den Sozialämtern viel weiter. Dort lautet die Frage: Soll die Arbeit von Sozialhilfeberechtigten überhaupt bezahlt werden? Dazu ein Bericht von U. BRACHTHÄUSER, Mitarbeiter der überregionalen Arbeitslosenzeitung „quer“:
Viele Kommunen stehen „vor dem finanziellen Kollaps“, heißt es in einer Presseerklärung des Deutschen Städtetages. Mehrbelastungen von mindestens 2,2 Milliarden Mark fürchten die Städte allein im Bereich Sozialhilfe, wenn Bonn seine Kürzungspläne durchsetzt. Die Bundesregierung will den Haushalt über die Befristung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre und den weiteren Abbau im Bereich Fortbildung, Umschulung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sanieren. Wer aber aus der Arbeitslosenhilfe fällt, landet früher oder später beim Sozialamt. Deshalb ruft der Deutsche Städtetag zu einer außerordentlichen Hauptversammlung „Städte in Not“ am 18. Oktober nach Bonn.
Hinter den Kulissen richten sich die Städte jedoch längst auf die Mehrbelastungen ein. Nach der Streichung kommunaler Leistungen, der allgemeinen Erhöhung städtischer Gebühren, der Entlassung von städtischen Arbeitern und Angestellten konzentrieren sich die Planungen jetzt auf die Sozialhilfeetats. Klar ist: Die Ausgabensteigerung durch
das wachsende Heer von Sozialhilfeberechtigten läßt sich allein durch die beschlossene Kürzung der Sozialhilfe-Regelsätze nicht auffangen.
Die Städte reagieren mit einer Doppelstrategie: Widerstand gegen Bonn auf der einen Seite, massive Einsparungen zu Lasten der Bürger auf der anderen Seite. Dreh- und Angelpunkt sind dabei die Sozialetats. Bundesweit entstehen Strukturen zum Massen-Arbeitseinsatz von Sozialhilfeberechtigten: Wer wegen Arbeitslosigkeit auf Sozialhüfe angewiesen ist, muß bereit sein, sich auf die Arbeitsangebote der Sozialämter einzulassen. Durch den Arbeitseinsatz von Sozialberechtigten lassen sich teure Lohnkosten für reguläre Angestellte einsparen.
Diese Pläne entsprechen genau dem politischen Kalkül von Bundesregierung und Arbeitgeberverbänden. Auch im „Standortpapier“ der Bundesregierung ist derartiges festgeschrieben. Das hierfür nötige juristische Instrumentarium haben die Städte im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) gefunden. Danach haben die Städte grundsätzlich zwei Möglichkeiten „Arbeits-
gelegenheiten“ für Sozialhilfebedürftige zu schaffen:
1. Sozialyersicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse mit meist befristetem Arbeitsvertrag, gewerkschaftlicher Vertretung, fast ausschließlich unter- oder sondertariflich bezahlt (Behörden-Jargon: Entgeltvarianten).
2. Arbeitseinsatz von Sozialhilfeempfängerlnnen ohne Sozialversicherungsschutz, ohne gewerkschaftliche Vertretung, ohne regulären Lohn. Gezahlt wird lediglich eine „Aufwandsentschädigung“ zwischen 1 und 2,50 DM pro Stunden zur Sozialhüfe (Prämienvarianten).
'Wer sich einem solchen „Angebot“ verweigert, kann mit Entzug oder Kürzung der Sozialhilfe bestraft werden. Vor allem in Großstädten Westdeutschlands wurde die erstgenannte Möglichkeit in den letzten Jahren genutzt.
Die Stadt Stuttgart beispielsweise hat ein Programm „Hilfe zur Arbeit“ aufgelegt und finanziert knapp über 600 Sozialversicherungspflichtige, untertariflich bezahlte Arbeitsplätze, zumeist bei freien Trägern. Inzwischen hat das Stuttgarter Arbeitsamt ohne rechtliche Grundlage die Vermittlung von Sozialversicherungspflichtigen Arbeitsangeboten im Rahmen von „Hilfe zur Arbeit“ übernommen. Und nunmehr werden, wie Volker Lubinski, im Stuttgarter Sozialamt zuständiger Ko-
ordinator, auf Anfrage bestätigte, auch Pläne zur Ausweitung von Arbeitsformen nach den Prämienvarianten konkret.
Die Stadt Leipzig geht einen anderen Weg: Per Faltblatt offerierten dort Sozialämter über 500 Sozialhilfeberechtigten „Arbeit“ im Rahmen eines Programms „Leipzig soll schöner werden“. Geboten wurde eine „Aufwandsentschädigung“ von 2 Mark pro Stunde. Wie die Sozialhilfeempfängerinnen darauf reagierten, geht aus einem internen Papier der Leipziger Stadtverwaltung hervor: Von den 500 Personen seien lediglich 221 beim das Projekt organisierenden ABM-Stützpunkt vorstellig geworden, „von denen zum Erhebungsdatum 11.8.93 jedoch nur 77 Arbeit aufgenommen und fortgeführt haben“
Die städtischen Sozialplaner wollen daraus die Konsequenz ziehen, die Hilfeempfänger „per Verwaltungsakt zur Arbeit heranzuziehen und bei Nichtannahme der Arbeitsgelegenheit die Sozialhilfe zu kürzen bzw einzustellen“. Bei konsequenter Umsetzung würden dann viele „aus der Sozialhilfe aussteigen; dies führt zu Einsparungen im Rahmen der Sozialhüfe“. Das interne städtische Papier geht aber noch -weiter. Danach ist in Leipzig der Arbeitseinsatz von bis zu 5 000 Sozialhilfeberechtigten ge-
plant, der Großteil in Arbeitsgelegenheiten gegen „Aufwandsentschädigung“, ohne Lohn, ohne Sozialversicherung, ohne gewerkschaftliche Vertretung und sonstige Rechte aus dem Bereich des Arbeitsrechts. Rechnet man die Leipziger Pläne auf das gesamte Bundesgebiet hoch, entstünden über 300 000 solche „Arbeitsgelegenheiten“ Da drängt sich der Reichsarbeitsdienst in Erinnerung.
Auch in der rot/grün-regierten Stadt Frankfurt am Main wird die „Prämienvariante“ immer häufiger praktiziert. Einen der Betroffenen verschlug es in die Redaktionsräume der Arbeitslosenze^tung „quer“. Er hatte gegen die Heranziehung Widerspruch bei der Sozialbehörde eingereicht und sich geweigert, diese „Arbeit“ aufzunehmen. Daraufhin kürzte das Amt die Sozialhilfe; nach einem weiteren Widerspruch gegen die Kürzung stellte es die Zahlungen ein. Sein Resümee: „Das ist Zwangsarbeit.“
In Frankfurt am Main landen solche Konflikte nun regelmäßig vor dem Verwaltungsgericht.
(Juristische Beratung in Sachen „Hilfe zur Arbeit“ gibt es bei vielen Sozialhilfe- und Arbeitsloseninitiativen. Weitere Hintergrundinformationen sind zu lesen in der Arbeitslosenzeitung „quer“, Günthersburgallee 22, 60316 Frankfurt/M.)
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