Völlig überraschend hat das Hamburger Oberlandesgericht am gestrigen Donnerstag den Angeklagten Abdelghani Mzoudi auf freien Fuß gesetzt. Der galt bis gestern nicht nur den Staatsanwälten als Massenmörder. Auch viele Medien sahen in ihm das personifizierte Böse.
Aus solchen Meldungen werden sonst nur Kriminalfilme »gestrickt«. Gestern früh, kurz nach 8 Uhr im Hamburger Justizgebäude. Routine. Gerichtsdiener bewegen Akten, bereiten den Saal vor, in dem derzeit der Top-Prozess stattfindet. Vor dem Gebäude und auch im Innern zeigt Polizei deutlich Präsenz. Schließlich wird - so die Anklage - gegen einen gefährlichen Terroristen verhandelt. Abdelghani Mzoudi, in Marokko geboren, soll zu den in Hamburg aktiven Hintermännern des Anschlages vom 11. September 2001 gehört haben, nach dem sich die Welt veränderte. Über 3000 Menschen sind den Flugzeugattacken in New York und Washington zum Opfer gefallen, ungleich mehr wurden bislang im »Feldzug gegen den Terrorismus« getötet, den die USA unter direkter Leitung des Präsidenten gegen angebliche Drahtzieher und andere »Schurken« gestartet haben. Und täglich werden es mehr. Eine halbe Stunde bevor Staatsanwälte, Richter und Verteidiger sich erneut auf die Suche nach der Wahrheit begeben wollten, kommt ein Drei-Seiten-Fax in Hamburg an. Abgeschickt wurde es beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Sein Inhalt lässt die Empfänger zunächst zweifeln, dann stauen und schließlich handeln. Um zwölf Uhr mittags ist die Sache dann klar. Der Vorsitzende Richter, Klaus Rühle, verkündet: Der Angeklagte ist frei, die Untersuchungshaft beendet, der ganze Rummel um Sicherheit und Diskretion hat sich erledigt. Während - so wird berichtet - die Anwältin Gül Pinar vor Freude aufsprang, Journalisten aus dem Saal stürzten, um per Handy die Heimatredaktionen auf eine Sensation vorzubereiten, schaute Abdelghani Mzoudi ungläubig vor sich hin. Umgehend legen die Ankläger Berufung ein. Bundesanwalt Walter Hemberger sah keinen Anlass für die Aufhebung des Haftbefehls. Zu spät. Die Order kommt letztlich von ganz oben - oder, wenn man so will, von ganz weit her. Grundlage für das überraschende Prozessende waren Aussagen einer »Auskunftsperson«. Keiner zweifelt, dass es sich dabei um den in Pakistan gefangenen Ramzi Binalshibh handelt, der sich - bevor ihn US-Geheimdienstler erwischten - im Fernsehen gebrüstet hatte, der eigentliche Kopf der grausamen Anschlagsserie gewesen zu sein. Seit Monaten wird er von US-Ermittlern an einem geheimen Ort verhört. Was er zu sagen hat, ist geheim, nur ab und zu - wenn es den USA nutzt - gibt das FBI befreundeten Diensten Bruchteile seiner Aussagen zur Kenntnis. Zumindest das Wenige, dass das Bundeskriminalamt in Bezug auf Mzoudi erfahren hatte, wollte das Hamburger Gericht auch wissen. Das BKA zierte sich, man verwies auf die Vertraulichkeit, die von den US-Kollegen gefordert worden war. Doch dann gelang, was kaum noch einer erwartet hat. Die freigegebenen Aussagesplitter entlasteten den angeklagten Marokkaner. Nur vier Leute hätten zur so genannten Hamburger Zelle gehört: Binalshibh und die drei mutmaßlichen Todespiloten Mohammed Atta, Marwan Alshehhi und Ziad Jarrah. Mzoudi war keiner der Mitwisser, hat nicht zum Gelingen der Wahnsinnstaten beigetragen, denn die von Binalshibh genannten Personen hätten »zu keiner Zeit mit anderen über tatsächliche Operationen oder die Bildung einer terroristischen Zelle gesprochen«. So blieb den Hamburger Richtern nur der Grundsatz: «In dubio pro reo« - im Zweifel für den Angeklagten. Der Vorgang lässt eine Reihe neuer Fragen aufkommen. Wie ferngesteuert sind eigentlich deutsche Terror-Fahnder? Wie exakt prüft die Bundesanwaltschaft Vorwürfe, bevor sie schwerwiegende Anklagen wegen Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen oder wegen Beihilfe zum Mord erhebt? Ist es möglich, dass in anderen Fällen Urteile gefällt wurden, die sich auf falsche Annahmen und Beweise gründen? In Hamburg ist unlängst gegen den angeblichen Terroristen Mounir al-Motassadeq verhandelt worden. Er wurde zu 15 Jahren Haft verurteilte, weil er - die Prozesse gleichen sich - Mitglied jener Hamburger Zelle gewesen sein soll, die die Terrorflieger unterstützte. Mehrmals hatten Verteidiger und Richter versucht, Aussagen verhafteter Al-Qaida-Mitglieder lesen zu können, die Motassadeqs Schuld oder Unschuld bestätigen. Stets wurden solche Forderungen abgelehnt, weil man das Vertrauensverhältnis zu den US-Ermittlern sowie weitere Operationen gegen das weltweite Terrornetzwerk Osama bin Ladens nicht gefährden könne. Das war auch die Position der Bundesregierung. Handelte das Kanzleramt und das Justizressort da vorsätzlich gegen den Angeklagten und das deutsche Rechtssystem?
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