Seismographen für soziale Erschütterungen
In Magdeburger Obdachlosen-Einrichtungen gibt es Brot, ein Bett und (erstmal) keine Fragen
»Bei uns« - das ist die Bahnhofsmission auf dem Hauptbahnhof in Magdeburg. Schilder am Bahnsteig 5 weisen eine Treppe hinauf. Die Räume sind nüchtern und alles andere als anheimelnd, aber sie sind wenigstens trocken und warm. Für die Männer, die an diesem wie an vielen Nachmittagen die Treppe hinaufpoltern, ist es das, was zählt. Viele von ihnen haben kein eigenes Zuhause. Manche kriechen tageweise bei Bekannten unter. Nicht wenige aber leben auf der Straße - auch, wenn die Temperaturen unter den Gefrierpunkt sinken. »Bei uns«, sagt Leiterin Adelheid Bornhold, »bekommen sie etwas Heißes zu Trinken und wenigstens für kurze Zeit einen Unterschlupf.«
Die Behörden führen
keine Statistik
Die Bahnhofsmission gehört zu einer Hand voll Einrichtungen, die sich in Magdeburg um Obdachlose kümmern. Der Bedarf ist beträchtlich. Zwar verfügt kaum eine Behörde über genaue Angaben dazu, wie viele Menschen auf der Straße leben und wie sich die Zahl in den letzten Jahren entwickelt hat. Der Abstieg vom Verlust der eigenen Wohnung bis zum Leben auf der Straße ist fließend; außerdem können oder wollen viele Betroffene ihre Notlage gegenüber Ämtern nicht vollständig offenbaren. Eine Statistik für das Land gebe es daher nicht, bedauert das sachsen-anhaltische Sozialministerium.
Indizien aber gibt es. In den beiden von der Stadt betriebenen Magdeburger Obdachlosenunterkünften für Männer sowie für Frauen und Familien wurden im vorigen Jahr 19830 Übernachtungen registriert. 2001 waren es noch 22330. Auch andere Einrichtungen sehen sich mit einer Nachfrage konfrontiert, die kaum als erfreulich bezeichnet werden kann. Im »Contakt-Café«, einer von der Caritas betriebenen Einrichtung für Obdachlose im Stadtteil Cracau, kommen täglich 30 Menschen zum Mittagessen. Als unlängst eine kleine Weihnachtsfeier veranstaltet wurde, waren die Räume sogar übervoll.
Abends kommt gewöhnlich ein Dutzend Menschen, überwiegend Männer, in das Contakt-Café, um Tee zu trinken und ein paar Wurstbrote zu verspeisen. Die meisten sitzen in sich gekehrt, abweisend und einzeln an ihren Tischen oder rauchen vor der Tür. Ein Stammbesucher, der früher Dozent gewesen sein soll, bevor der soziale Abstieg begann, preist eifrig Geschirr an, das ein Discounter im Sonderangebot führe: »Zwölf Teile für nur 29,99!« Ob der Mann eine Wohnung hat, in der er die Tassen auftischen könnte, wissen die Mitarbeiterinnen nicht. Seine Berichte klängen jeden Tag anders. Außerdem »waschen wir den Männern die Wäsche oder geben ihnen neue Sachen aus der Kleiderkammer«, sagen die ABM-Frauen über ihre Arbeit. »Fragen stellen wir nicht.«
Unterstützung und Zurückhaltung gehören zu den wichtigen Prinzipien in den Einrichtungen, betont auch Adelheid Bornhold. »Wir bieten alle erdenkliche Hilfe«, sagt die Leiterin der ökumenisch geführten Bahnhofsmission, die das Café mitbetreut, »aber wir drängen sie nicht auf.« Heiße Getränke, Wärme und Gespräche mit Leidensgefährten gibt es, »auch ohne dass jemand dafür seine Lebensgeschichte erzählen muss«. Wer allerdings sprechen will, der findet im Café oder bei der Mission das, was Passanten auf der Straße, die im Winter etwas milder gestimmten Wachleute in Bahnhöfen oder Einkaufspassagen und selbst die Trinkkumpane selten haben: ein offenes Ohr.
Beginnen die Menschen erst einmal zu erzählen, offenbaren sie oft erschütternde Schicksale. In den Berichten tauchen ähnliche Gründe für den Weg ins soziale Abseits auf: Arbeitslosigkeit, Scheidung, der Tod von Partnern. »Danach kommt oft Alkohol ins Spiel«, sagt Bornhold. Viele der Gäste in Bahnhofsmission und Contakt-Café fänden keine Wege, mit den immer übermächtigeren Problemen umzugehen. Bornhold und ihre Kollegen bieten in solchen Krisen ihre Unterstützung an: Gang zu Behörden oder zur Suchtberatung, die Suche nach einer Wohnung.
Zuflucht für
16- bis 21-Jährige
Das Orientierungshaus für obdachlose Jugendliche ist in einem schnörkellos, aber wohnlich eingerichteten Flachbau direkt an der Stadtautobahn untergebracht. In dem von »St. Mauritius«, einer Tochtergesellschaft der Caritas, betriebenen Haus im Stadtteil Sudenburg können 16- bis 21-Jährige eine Zuflucht finden. Die Notunterkunft bietet normalerweise nur für kurze Zeit ein Bett und Raum zum Nachdenken an. Wer nicht mehr als drei Mal übernachtet, »der kann vollkommen anonym bleiben«, wie Mitarbeiterin Ruth Morgenroth erklärt. Erst danach muss er sich »outen«. Die Geschichten, die den Sozialarbeiterinnen dann zu Ohren kommen, sind hart. Viele der Jugendlichen sind zu Hause ausgebrochen, weil sie sich mit ihren Eltern überworfen hatten; andere wurden verstoßen. Meist haben sie danach bei Freunden und zweifelhaften Kumpels gewohnt oder in Parks geschlafen. Nicht wenige sind in die Drogenszene abgerutscht, straffällig geworden, manche auch auf dem Strich gelandet. »Wer hier vor der Tür steht«, sagt Morgenroth, »der ist schon sehr schlimm dran.«
Auch im Orientierungshaus bieten die vier Mitarbeiterinnen Hilfe an. Ohne die Zustimmung der jungen Menschen dürfen sie Eltern, Schule oder Behörden aber ebenso wenig hinzuziehen, wie sie die Polizei in das Haus lassen. Morgenroth räumt ein, dass derlei selbst auferlegte Zurückhaltung angesichts der teilweise traurigen Lebensgeschichten nicht einfach ist. Sie verweist allerdings auf eine Tatsache, die Bornhold so formuliert: »Auch die Freiheit, sich nicht helfen lassen zu wollen, muss man anerkennen.«
Kein Hehl machen die Mitarbeiterinnen in den Einrichtungen daraus, dass sie den gesellschaftlichen Verhältnissen, die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung so hoch einstufen, eine Mitschuld an den Lebensverhältnissen ihrer Klienten geben. Morgenroth verweist auf Familien, in denen Ängste um den Arbeitsplatz oder den Lebensunterhalt so beherrschend geworden seien, dass die Beziehungen von Müttern und Vätern zu ihren Kindern zerrüttet würden: »Die Eltern haben oft allein genug Sorgen.« Gleichzeitig sei die Gesellschaft nicht so strukturiert, dass es »leicht ist, aus dem falschen Fahrwasser wieder herauszukommen«.
Die tägliche Erfahrung belegt das. Nur wenige Besucher der Einrichtungen schaffen den Absprung. Die Frauen im Café müssen eine Weile überlegen, bis ihnen Willi einfällt, der »schon ganz unten war«, bevor er sich vom Alkohol verabschiedete, in eine kleine Wohnung zog und eine »Maßnahme« erhielt. Hilfen sind immer auch mit harten Forderungen verbunden: Entzug, Entschuldung, die Rückgewöhnung an ein regelmäßiges Leben. Ruth Morgenroth sagt, mancher muss dazu einen Umweg gegangen sein: »Von uns in den Knast, von dort zurück zu uns - und dann kriegen sie vielleicht die Kurve.«
Weil die soziale Kälte in den nächsten Jahren nicht abnehmen dürfte, rechnet Adelheid Bornhold mit einem steigenden Bedarf für ihre Arbeit. Die Missionschefin vergleicht die Situation mit den frühen 90er Jahren. Damals hatten die Massenentlassungen in den ehemaligen Kombinatsbetrieben des Magdeburger Schwermaschinenbaus viele Menschen in die Bahnhofsmission und andere Auffangstellen für sozial Entwurzelte gespült; gleichzeitig war das Klima rauer geworden: »Die Aggression nahm deutlich zu.«
Ähnliche Phänomene registrieren die Beschäftigten in den Obdachloseneinrichtungen jetzt wieder. Die Häuser würden nicht umsonst »Seismographen für soziale Erschütterungen« genannt, sagt Bornhold. Die Messfühler beginnen bereits, stärker auszuschlagen. Werden soziale Leistungen weiter gekürzt und beispielsweise Sozial- und Arbeitslosenhilfe zusammengelegt, dann bestehe »die Gefahr, dass wir mehr Zulauf bekommen«.
Gleichzeitig bedeuten Sozialkürzungen auch eine Gefahr für solche Einrichtungen. »Noch« könne man sich das Café leisten, sagt Bornhold. Doch die Mitarbeiterinnen kommen per ABM ins Haus; die Stellen werden seit Jahresbeginn nur noch für sechs statt wie früher für zwölf Monate vergeben. Auch städtische oder vom Land finanzierte Einrichtungen geraten in Bedrängnis. Flächendeckend werden Beratungsstellen, Frauenhäuser oder Anlaufstellen für andere Not Leidende derzeit in Frage gestellt.
Geschenke aus
dem Kindergarten
Umso erfreuter ist man in den Häusern deshalb über Spenden. Vor einigen Tagen haben die Magdeburger Obdachlosen-Einrichtungen durch eine in den Zeitungen gut beachtete Aktion auf ihre Existenz aufmerksam gemacht; auf dem Bahnhof werden mehrmals im Jahr Infostände eingerichtet. Das Werben zeitigt kleine Erfolge: Im Contakt-Café stapeln sich in einem Hinterzimmer in Weihnachtspapier eingeschlagene Pakete, die an Heiligabend verteilt werden sollen. Eine Kindergartengruppe ist unlängst vorbeigekommen und hat Berge von Lebensmitteln gebracht.
In der Adventszeit registrieren die Einrichtungen eine steigende Anteilnahme. Offenkundig erinnerten sich viele Menschen kurz vor Weihnachten an Menschen, denen ansonsten wenig geschenkt wird. Den Besuchern in den Missionsräumen und im Cracauer Café ist das recht. Besonderen Anklang, sagt Bornhold, finden Schlafsäcke, denn »viele Obdachlose ziehen es selbst im Winter vor, in Abbruchhäusern zu schlafen.« An die grimmigen Temperaturen hat offenkundig auch ein Spender gedacht, der letzte Woche in der Bahnhofsmission vorbeikam. Er brachte einen Beutel. Der Inhalt: selbst gestrickte Strümpfe.
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