Stoffstücke im elekronischen Feld

Textilindustrie Ost setzt auf Erfindergeist

  • Bettwäsche wird auf Kunden zugeschnitten Von Hendrik Lasch, Chemnitz
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Textilindustrie in Ostdeutschland trotzt dem negativen Branchentrend. Vor allem innovative Erzeugnisse finden Absatz. Profitiert hat der Erfindungsreichtum von einem außergewöhnlichen Förderprojekt.
Ein Tastendruck, und die Bettwäsche glänzt in Bordeaux. Die Farbe lässt schweren Schlaf befürchten? Eine Fingerbewegung färbt die Laken blassgrün oder crèmefarben. Auch ein Bild des Traumautos oder der Traumfrau ist im Handumdrehen auf das Kissen gezaubert. Dem gedruckten Bild ist nicht anzusehen, dass es im Computer errechnet ist: »Von einem Foto«, befindet Hansgeorg Meißner, »ist es nicht zu unterscheiden.« Dem Katalogkunden soll es egal sein, ob die Bettwäsche oder die Brokattapete nur in einem Rechner existieren, bis er sich entschieden hat. Die Hersteller feiner Stoffe jedoch sparen Arbeit und Geld, wenn sie Sofabezüge oder Vorhänge nur in den Mustern herstellen, die tatsächlich nachgefragt werden. »Kundenindividuelle Produktion« nennt Meißner den Ansatz, für den die von ihm geleitete Firma Anova die technische Grundlage geschaffen hat: professionelle Computergrafik in Verbindung mit Programmen für Zuschnitt, Kalkulation und Warenverwaltung. Das »Virtuelle Ideenhaus Wohnen«, bei dem Anova mit sächsischen Mittelständlern kooperiert und das nach Firmenangaben ohne Konkurrenz ist, gehört zu den verblüffenden Ergebnissen eines ehrgeizigen Forschungsvorhabens, mit dessen Hilfe die ostdeutsche Textil- und Bekleidungsindustrie verlorenes Terrain zurückerobern soll. Unter dem Etikett »Textilregion Mittelsachsen« soll der einst gebeutelten Branche, die Anfang der 90er Jahre vorwiegend durch Betriebsschließungen und Stellenabbau gekennzeichnet war, neuer Erfindergeist eingehaucht werden. Dieser soll neue Märkte erschließen helfen. Kräftige staatliche Förderung bringt die Zusammenarbeit der oft kleinen Unternehmen mit Forschungsinstituten, Hochschulen und Kooperationspartnern in Schwung. Der als Dienstleister eigens gegründete Verein Innovation Netzwerk Textil (Inntex) verfügt über ein Budget von 25Millionen Euro, von denen der Bund im Rahmen seiner InnoRegio-Initiative 16 Millionen bereitstellt. Das Geld ist gut investiert, sagt Rainer Merkel, der Geschäftsführer des Verbandes der Nord-Ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie (vti) ist und auch bei Inntext die Fäden zieht: Forschungsergebnisse des vor drei Jahren gegründeten Netzwerks haben bisher zu Umsatzsteigerungen von 35 Millionen Euro geführt und 198 Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert; bis zum vorläufigen Ende der Laufzeit im Jahr 2006 sollen es 62 Millionen und 267 Stellen sein. Außerdem würden viele Firmen und Institute, die über Inntex zueinander gefunden hätten, inzwischen auch bei anderen Vorhaben kooperieren. Auch aus Sicht der Geldgeber ist das Textil-Netzwerk ein Erfolg. Unter den 23vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten InnoRegio-Vorhaben sei es »eines der dynamischsten«, sagt Projektbetreuer Hans-Peter Hiepe. Er verweist zudem auf die stark wirtschaftliche Orientierung. Sie lässt sich in Zahlen messen. Während die Textilindustrie in Westeuropa zweistellige Produktionseinbrüche verbucht und deutschlandweit zuletzt um acht Prozent schrumpfte, gab es in der Region ein »Nullwachstum«, wie vti-Hauptgeschäftsführer Bertram Höfer formuliert. Beim Export wurden sogar zweistellige Zuwachsraten verzeichnet. Für eine Branche, die vor Jahren schon abgeschrieben war, sei das »erstaunlich«. Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg, davon sind die Projektbeteiligten überzeugt, werden auch künftig neue Ideen und Technologien sein. Inbegriff solcher intelligenten Textilien sind etwa so genannte »smart labels«, also schlaue Etiketten. Die mit einem mikroelektronischen Schaltkreis versehenen Stoffstücken, die geknautscht und gewaschen werden können, sollen künftig helfen, Wäsche zu sortieren, teure Anzüge vor Diebstahl zu schützen oder Markenkleidung von billigen Nachahmungen zu unterscheiden. Die Etiketten sind zudem viel schlauer als Strichcodes: Sie speichern Informationen, für die sonst eine A4-Seite benötigt wird, und eröffnen so ganz neue Möglichkeiten für Warentransport und Lagerung. Anzüge und Kleider könnten dank schlauer Etiketten auch bereits an der Nähmaschine mit dem Namen der künftigen Träger versehen werden. Sinnvoll wäre das, wenn ein weiteres Produkt aus dem Netzwerk Anklang findet: Ein Verfahren, mit dem Körpermaße binnen Sekunden in elektronische Daten umgewandelt werden und das einen vom Computer gesteuerten individuellen Zuschnitt der Kleidung ermöglicht. Maßband und Elle sind bei dem Projekt, das die Gesellschaft zur Förderung angewandter Informatik in Berlin entwickelte, nicht notwendig. Stattdessen werden die Kunden in einer Kabine, die in jedem Laden installiert werden könnte, von Lichtstrahlen abgetastet. Binnen anderthalb Minuten sind Brustumfang, Ärmellänge und Kragenweite exakt vermessen und in die Näherei übermittelt. Der Renaissance des Maßanzugs steht also nichts mehr im Wege.

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