»New York - the city that never sleeps« (die Stadt, die niemals schläft) ist ein Ohrwurm von Frank Sinatra, der das Lebensgefühl im rastlosen New York über Jahrzehnte auf den Punkt genau traf. Bis Dienstag am frühen Morgen, einem im schlimmsten Sinne historischen Tag für die Millionenmetropole.
Wenige Stunden nachdem zwei entführte Passagierflugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Centers gerast waren, worauf das Wahrzeichen der Finanzmetropole eine Stunde später in sich zusammensackte, leerten sich die Avenues und die Seitenstraßen von Manhattan. Der weltberühmte Stadtteil der Ostküstenmetropole, in dem Tausende fassungsloser Menschen das Einstürzen der »Twin Towers« verfolgt hatten, glich gegen Mitternacht einer Geisterstadt - keine Taxis mehr, keine Fußgänger, keine Broadway-Shows, keine Touristengruppen. Nur das Geknatter von Polizeihubschraubern, unterbrochen vom Heulen der Krankenwagen und gelegentlich einem Militärflugzeug. Der Schauplatz des Anschlags war in weitem Umkreis abgeriegelt. Manhattan schlief nicht, es war wie tot. Noch 20 Stunden später loderten die Flammen Ab Mittwoch sollten Militär, Polizei, FBI und Geheimdienste das Kommando übernehmen. Tausende von Opfern werden unter den Trümmern vermutet, die sich 10 Stockwerke hoch in Downtown Manhattan häufen. Rettungs- und Bergungsteams kämpften noch 20 Stunden nach den Anschlägen mit Flammen, herabstürzenden Betonteilen und freigesetzten Gasen. Schier endlos scheint die Mühe, mit der sie rund um die Uhr Stein um Stein wegbaggern, Metallteile beiseite räumen und gegen immer neu aufzüngelnde Flammen vorgehen. Noch besteht Hoffnung, dass sich unter schätzungsweise 200000 Tonnen Schutt Überlebende aufhalten. Bürgermeister Rudolph Giuliani und die Politiker der Stadt geben sich zurückhaltend, was die Opferzahlen betrifft. Offenbar um keine Panik zu schüren, die Öffentlichkeit zugleich aber auf das Schlimmste vorzubereiten, weigerte sich Giuliani, auch nur eine Größenordnungen anzugeben, doch die Zahl sei »vermutlich schwer zu ertragen«, sagte er. Allein in den vier zu Waffen umfunktionierten Flugzeugen - neben den beiden in New York raste eines in das Washingtoner Verteidigungsministerium, ein anderes stürzte in Pennsylvania ab - starben 233 Passagiere, 25 Flugbegleiter und 8 Piloten. Rund 300 New Yorker Feuerwehrleute und Polizisten sind ersten Schätzungen zufolge unter dem zusammengestürzten World Trade Center begraben. Die Opferzahl im Pentagon wird auf bis zu 800 geschätzt. Dutzende Menschen stürzten sich in New York vor der Feuersbrunst in die Tiefe. Bis Mittwochmorgen waren erst wenige aus den Trümmern geborgen. Eine annähernd genaue Opferzahl ist frühestens in einer Woche zu erwarten. Da sich zum Zeitpunkt der Terrorangriffe bereits Tausende im WTC aufhielten und die Evakuierung stattfand, während die Gebäude barsten, wird die traurige Bilanz zwischen 3000 und 20000 Toten liegen. In der Stadt herrscht weithin spürbar Ausnahmezustand - als hätte eine Atombombe eingeschlagen. Der Gouverneur des Staates New York, George Pataki, orderte die Nationalgarde als zusätzliche Ordnungsmacht an. 3000 bewaffnete Militärs wurden zu Patrouillen eingesetzt. Schulen wurden bis auf Weiteres geschlossen, noch am Mittwochmorgen durften kein PKW die vielen Brücken und Tunnel nach Manhattan befahren. Die Katastrophe hat freilich nationale und internationale Dimensionen, die weit über das unmittelbare Schreckensszenario hinausgehen. Zum ersten Mal in der USA-Geschichte ist der gesamte Flugverkehr eingestellt, sind sämtliche Flughäfen gesperrt worden. Die Grenzübergänge zu Kanada und Mexiko werden auf höchster Sicherheitsstufe überwacht. Die USA proben sprichwörtlich den Kriegszustand. Es handelt sich um den größten Anschlag auf USA-Territorium - »seit Pearl Harbour«, wie Zeitungen, Fernsehen und Radio unermüdlich betonen. »Angriff auf Amerika« lauten die entsprechenden Schlagzeilen, und »Amerika im Krieg«. Tatsächlich sind noch Dienstagnacht zehn Kriegsschiffe, darunter zwei Flugzeugträger, »zum Schutz von Washington und New York«, aber auch an der Westküste ausgelaufen. Marine und Armee auf USA-Territorium sowie auf Stützpunkten weltweit sind in den militärisch höchstmöglichen Alarmzustand versetzt worden: »Threatcon Delta«. Der Anschlag auf das Nervenzentrum US-amerikanischer Macht, das Pentagon, einen der angeblich bestabgeschirmten Orte der Welt, schmerzt die Generäle spürbar. Während die Bergungsmannschaften in seinem Amtsgebäude nach Überlebenden suchten, während von neuen Flammen und Hunderten von Toten im Pentagon berichtet wurde, gab sich dessen Chef Donald Rumsfeld beinhart und kriegerisch. Um Stärke zu demonstrieren, hielt er wenige Stunden nach dem Anschlag im Bunker des Pentagon-Militärhauptquartiers eine Pressekonferenz ab. »Das Pentagon funktioniert«, sagte er und biss sich auf die Lippen, »es wird morgen in Betrieb sein.« Und es ist in Betrieb. Als Urheber des Anschlags bezeichnen von den Medien nicht namentlich benannte »Beamte aus Pentagon, FBI, CIA und Weißem Haus« immer öfter ein »Netzwerk«, das der saudische Millionär und muslimische Fundamentalist Osama bin Laden betreiben soll. Vergeltungsschläge sollen »erbarmungslos« sein Als erster und am deutlichsten machte noch am Dienstag der ehemalige Außenminister Henry Kissinger klar, wohin die USA ihren Gegenschlag richten sollten - auf das »Netzwerk« bin Ladens und seine Basis. Der heutige »inoffizielle« Regierungsberater gestand zwar: »Wir wissen noch nicht, ob Osama bin Laden dahintersteckt«, doch sehe es »ganz nach einer Laden-typischen Operation aus«. Und »jede Regierung, die Gruppierungen dieser Größenordnung mit solchen Anschlagskapazitäten beherbergt, muss einen ungewöhnlich hohen Preis dafür bezahlen - egal ob ihr eine Anschlagsbeteiligung nachgewiesen werden kann oder nicht«. Andere große US-amerikanische Tiere, die vor über 20 Jahren islamische Fundamentalisten im Kampf gegen die Sowjetunion massiv aufrüsteten, stimmten Kissinger zu. Im Gespräch als Ziel einer Vergeltungsoperation ist deshalb Afghanistan - wieder einmal. Dass es den USA aber auch darum geht, ihre angekratzte globale Führungsrolle zumindest im Bereich des »Antiterrorismus« mit massiver Gewalt wieder aufzupolieren, daran mochte der alte Hase Kissinger keine Zweifel lassen. Die Frage sei gar nicht so sehr, welchen Schlag die USA diese oder nächste Woche ausführen werden, meinte Kissinger. Nur dürfe die Antwort, da die nationale Sicherheit der USA bedroht worden sei, »keinesfalls vom Konsens abhängig gemacht werden«. Zusammenarbeit mit den engsten Alliierten sei zwar geboten, schloss er, aber um der Glaubwürdigkeit der USA willen »nicht einfach auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner«. Die Vergeltungsschläge sollten dem ehemaligen Sicherheitsberater zufolge auch den engsten Verbündeten deutlich machen, dass die USA demnächst zeigen, wer der unumstrittene Herr im Haus ist - »ruhig, mit Bedacht und erbarmungslos«.