Während sich die Kreise um Osama bin Laden als Kopf der für die Anschläge in den USA verantwortlichen Terroristen immer enger ziehen, reagieren die Taleban in Afghanistan nervös.
Nahezu ein halbes Dutzend Stellungnahmen von Taleban-Repräsentanten in Kabul, Kandahar und Islamabad zu Osama bin Laden und den Terroranschlägen in New York und Washington belegen, wie verunsichert die einstigen Religionsstudenten (Taleban) gegenwärtig sind. Einerseits wollen sie drohendes Unheil - Vergeltungsschläge der Supermacht - abwenden. Dabei gingen sie so weit, die USA zu bitten, keine Attacken zu beginnen, da das afghanische Volk schon genug zu leiden habe. Auf der anderen Seite halten sie nach wie vor schützend ihre Hände über bin Laden, dem sie seit rund fünf Jahren Unterschlupf gewähren. Die Taleban argumentierten zunächst, bin Laden sei gar nicht stark genug, eine solche umfassende Operation vorzubereiten und durchzuführen. Dann streuten sie das Gerücht aus, sie hätten den »Ehrengast« unter Hausarrest gestellt, um keine 24 Stunden später zu dementieren; sie wüssten gar nicht, wo er sich exakt aufhalte. Schließlich entgegneten sie auf ein Auslieferungs-Ersuchen Washingtons auf die bekannte Weise: Dazu seien sie jeder Zeit bereit - wenn dessen Schuld bewiesen werde. Die Taleban betrachten den saudischen Multimillionär bin Laden als Landsmann. Seine überwiegend ausländischen Begleiter im afghanischen »Exil« sind als »arabische Afghanen« bekannt. Sie stammen u.a. aus Ägypten, Algerien und Sudan. Ihre Auffassung vom Islam als fundamentalistischem und militantem Glaubensbekenntnis, gepaart mit Hass auf alles Westliche, deckt sich weitgehend mit der Ideologie der Taleban. Die sehen in dem Saudi aber auch deshalb einen Gesinnungs- und Waffenbruder, weil er mit den Mudshahedin von 1979 bis 1989 gegen die sowjetischen Truppen in Afghanistan gekämpft hat. Das dürfte der Hauptgrund für sein Bleiberecht am Hindukusch sein. Kein Wunder deshalb, dass die Einwohner Kabuls in der Nacht zum Mittwoch aufschreckten und zunächst an einen Bombenangriff der Amerikaner dachten, als auf dem Flughafen Raketen explodierten und ein Munitionsdepot in die Luft flog. Doch aus dem demolierten Pentagon kam schnell die Erklärung, dass es damit nichts zu tun habe. Später bestätigte Bismillah Khan, ein Kommandeur der oppositionellen afghanischen Nördlichen Allianz, seine Leute hätten den Angriff auf den Kabuler Flughafen ausgeführt. Seit Wochen toben wieder erbitterte Kämpfe zwischen den Taleban und der Nördlichen Allianz. Die erlitt dieser Tage mit dem Attentat auf ihren Militärführer Ahmed Shah Massud einen schweren Schlag. Aus Allianz-Kreisen hieß es, der Chef sei zwar am Kopf, an Armen und Beinen verletzt, aber außer Lebensgefahr. Hingegen hatten iranische, russische und amerikanische Quellen seinen Tod gemeldet. Gestern berichtete die indische Zeitung »The Asian Age« aus der Botschaft der afghanischen Nördlichen Allianz in Delhi, dass die beiden »Journalisten«, die Massud interviewten, identifiziert worden sind. Es handelte sich um zwei Marokkaner, die zum Netzwerk Osama bin Ladens gehörten und über Pakistan und Kabul einreisten. Beim Interview explodierte ihre Videokamera. Dabei wurden die beiden Marokkaner und ein Massud-Berater getötet, der Militärführer sowie der Botschafter der Allianz in Indien verletzt. Beide würden in einem Krankenhaus in Tadshikistan behandelt. Pakistan dient indes nicht nur als Transitland für militante islamische Fundamentalisten. Der militärische Geheimdienst ISI hat maßgeblich am Aufbau der Taleban-Bewegung mitgewirkt. Außerdem sympathisieren eine Reihe militanter Moslemgruppen und -parteien mit Osama bin Laden. Deshalb übte Islamabad bisher aus innenpolitischen Erwägungen keinen Druck auf Kabul aus, um die Auslieferung des Terroristen zu erzwingen. Doch nun kam aus Washington ein unmissverständlicher Wink. Die USA, so erklärte US-Außenminister Powell, erwarteten jetzt von Pakistan die »vollste Kooperation« bei der Aufklärung der Anschläge. Powell sagte: »Ich bin sicher, dass die Taleban-Führung Schutz und Räumlichkeiten für Osama bin Laden gewährt, aber ich will nicht ins Hypothetische gehen, ob er oder ob er nicht (für den Anschlag) verantwortlich ist.« USA-Botschafter Wendey Chamberlin wollte noch am Donnerstag in Islamabad mit Pakistans Präsident Parvez Musharraf zusammentreffen. Der erklärte nach einer Meldung der Nachrichtenagentur APP eiligst, Pakistan werde die USA voll im Kampf gegen den Terror unterstützen: »Alle Länder müssen sich in dieser gemeinsamen Sache die Hände reichen.« Unterdessen hat sich unter den Einwohnern Kabuls das Gefühl der Unsicherheit verstärkt, als die UNO am Mittwoch und Donnerstag alle ihre Mitarbeiter abzog, die afghanischen Angestellten auszahlte und die Computer und Dokumente einpackte. Die Kabuler bewerten das als ein unheilvolles Zeichen.
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